Ein Lied über der Stadt
seine Antwort mit der ersten Post kam. Sie hörten die Klingel bis in den Garten, und Luise nahm den kurzen Weg an der Remise vorbei um das Haus herum nach vorn. Der Postbote kramte die Briefe aus seiner großen Umhängetasche, übergab sie ihr mit einem kurzen Kopfnicken und war schon wieder fort. Seit Papa nicht mehr da war, grüßte er nicht mehr so höflich wie früher. Alle waren anders geworden, dachte Luise, als sie, die Briefe durchsehend, zurück in den Garten ging.
Sie erkannte Grebens Schrift sofort. Die steilen, sehr eng geschriebenen Buchstaben waren unverwechselbar. Sie riss den Umschlag auf und las hastig, mitten auf der Wiese stehend.
Liebe Luise , stand da, dann folgten ein paar Sätze darüber, dass er sich freue, von ihr zu hören, die sogar ehrlich klangen. Sie überflog sie nur, ein wenig seltsam berührt. Grebens Worte klangen zu ihr wie aus einem anderen Leben herüber. Dann das Wichtigste: Er habe Erkundigungen eingezogen, schrieb er, habe sich auch an jemanden gewandt, der in der Kommandantur in Dachau arbeite. Man habe ihm versichert, dass alles seine Richtigkeit habe und dass niemand ohne Grund in Schutzhaft genommen werde. Er bedauere die Festnahme sehr, aber andererseits sei es eben einfach nicht mehr so wie vor drei Jahren, und wer nicht für das neue Deutschland sei, der sei eben dagegen, und es sei dann besser, sich nicht öffentlich zu äußern. Er habe sich trotzdem an geeigneter Stelle – er schrieb tatsächlich: an geeigneter Stelle – für ihren Vater verwandt, wisse aber nicht, ob das Wirkung gehabt habe. Dann grüßte er sie herzlich und meinte, wenn sie nach München komme, dann sollten sie sich doch wieder einmal sehen. Luise ließ den Brief sinken. Sie hatte sich ja nicht viel erwartet, es war eine vage Hoffnung gewesen, aber diese vollkommen unbekümmerte Oberflächlichkeit, dieses Nichtverstehen, das machte, dass sie sich im Rückblick schämte, mit ihm verlobt gewesen zu sein. Er würde sich freuen, sie in München zu sehen. Natürlich. Und dann vielleicht einen Ausflug in einen Dachauer Biergarten machen. Was für ein Idiot!
»Schlechte Post?«, fragte Luana.
Luise nickte und ließ den Brief einfach fallen. Dann sah sie automatisch den Rest durch und hätte die Postkarte beinahe übersehen, wäre sie nicht durch ihren roten Aufdruck aufgefallen. Konzentrationslager Dachau , stand da, und darunter: Auszug aus der Lagerordnung . Luise erkannte erst jetzt die Schrift ihres Vaters und starrte auf die wenigen Bleistiftzeilen. Plötzlich zitterte sie. Liebe Luise, liebe Luana, lieber Paul , stand da, es geht mir den Umständen entsprechend gut. Bitte sendet mir Wäsche; auch die braune Strickjacke und 1 Paar feste Schuhe. Ich hoffe, Euch bald wiederzusehen. Euer Vater.
Luise fühlte sich auf einmal schwach in den Beinen. Endlich! Ein Lebenszeichen. Und es ging ihm einigermaßen! Sie las die Karte noch einmal und dann noch ein drittes Mal. Sie las auch den rot aufgedruckten Text: Schutzgefangene dürfen im Monat 1 Paket Wäsche bis zu 10 Pfd. (Lebensmittel, Rauchwaren ausgenommen) erhalten … Sprecherlaubnis wird nicht gestattet.
Was für schlechtes Deutsch, dachte Luise wie automatisch, eine Erlaubnis kann man nicht gestatten, und dann, fast wütend über sich selbst: Als ob das wichtig wäre.
»Schau«, sagte sie mit schwankender Stimme zu Luana, »von Gottfried!« Sie gab ihr die Karte.
Luana las langsam und hob den Kopf, als sie fertig war. »Das ist gut, nicht wahr?«
Luise nickte. Auf einmal hatte sie Tränen in den Augen. Wofür man schon dankbar sein musste! Dass es schon gut war, wenn man wusste, er lebte noch und durfte ein Paket Wäsche von zehn Pfund erhalten!
Aber er hatte auch geschrieben, er hoffe, sie bald wiederzusehen. War das bloß eine Floskel oder würde er bald entlassen werden? Hatte Georg recht gehabt, als er meinte, Pfarrer würden nie lange im Konzentrationslager bleiben?
»Ich muss Paul anrufen«, sagte Luise, schon halb auf dem Weg ins Haus.
»Ich komme«, sagte Luana.
Es hatte am Nachmittag heftig geregnet – ein Augustgewitter –, und jetzt, am frühen Abend, war der Himmel von kühler Farbe und von zerrissenen Wolken bedeckt. Noch immer wehte ein frischer Wind, und auf den Feldwegen glänzten die Pfützen in der tiefstehenden Sonne. Luise wich ihnen möglichst aus, während sie auf ihrem Fahrrad am Wald entlangrollte. Georg hätte sie später auf dem Motorrad mitnehmen können, aber sie war den Nachmittag über schon ungeduldig
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