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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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Meter hoch. Georg drehte sich wieder zu ihr um. Immer noch blass, doch die Begeisterung war in sein Gesicht geschrieben. Er hatte endlich die Hände vom Rahmen gelöst und wies nach unten.
    »Noch nie!«, schrie er ihr zu. »Ich … noch nie …«, und Luise verstand ihn und lachte ihm zu. Das Gefühl kannte sie auch. Vollkommen überwältigt zu sein davon, dass man sich von der Erde lösen konnte. Dass man über alles, alles hinwegfliegen konnte. Dass einen da unten nichts mehr anging. Dass man dort war, wo man sein sollte.
    Luise ließ den Steuerknüppel los, er bewegte sich durch den Druck auf der Klappe von selbst in die Mittelstellung, und das Flugzeug kam in den Geradeausflug. Unter ihnen zog ein Gespann seinen Weg auf einem Feldweg nach Gersdorf. ­Waldstücke und Felder erstreckten sich, soweit man sehen konnte. Luise probierte die Seitenruder. Langsam reagierend, aber wie ein pflichtbewusstes altes Arbeitsross legte sich die Maschine nach rechts und links in die Kurve. An der Trimmung musste sie noch arbeiten, machte sie sich im Geist eine Notiz – aber Georg hatte wunderbare Arbeit geleistet. Sie klopfte ihm auf die Schulter, damit er sich umdrehte.
    »Großartige Maschine!«, schrie sie ihm zu, hob den Daumen und lachte ihn an. Spätestens jetzt verschwand Georgs Blässe, und er wurde rot, richtig rot.
    »Ja?«, rief er zurück. »Wirklich?«
    »Ja!«, rief Luise. »Wirklich!«
    Sie folgte einem plötzlichen Einfall und lenkte die Maschine nach Südwesten. Automatisch warf sie einen Blick auf das Armaturenbrett und bemerkte, dass Georg noch keinen Kompass eingebaut hatte. Immerhin – das Loch dafür war schon da. Aber sie kannte ja die Gegend unter ihr. Sie folgte dem Verlauf der Kreisstraße, blieb jedoch über den Feldern. Sie sah, wie Georg sich zurückgelehnt hatte und nun den Flug genoss. Es war auch der perfekte Tag dafür. Ein paar leichte Wolken standen fast bewegungslos am Himmel, der sonst makellos blau war. Das Land sah von oben so schön aus, dass es ihr einen Stich gab, wenn sie daran dachte, dass Luana und Paul es verlassen wollten. Das war ihr Land. Das alles dort unten. Die Teiche, die wie nachlässig hingeworfene frische Münzen in der Landschaft glitzerten. Die dunklen Fichtenwälder, über denen es kühler war als über den Feldern. Die lichten Buchen- und Eichenwälder mit ihrem satten Grün. Die rot leuchtenden Ziegeldächer der Schulen neben den grauen, steingedeckten Dächern der Bauernhäuser in den Dörfern, die sie überflogen. Das Grün des Kupfers auf den Kirchendächern. Das war ihr Land, es war ihres, und sie wollte es sich nicht von den anderen wegnehmen lassen. Luise stieß Georg an und wies übermütig nach unten auf die goldschimmernde Kugel an der Turmspitze der Kirche: »Sollen wir sie pflücken?«
    Als Georg nickte, flog sie einen weiten Bogen vom Ort weg, drückte die Nase der Maschine nach unten und, immer schneller werdend, stürzten sie auf das Dorf zu. Wieder sah sie Georg mit beiden Händen nach der Bordwand greifen. Der Wind wurde zum Sturm. Luise spürte, wie sie leichter wurde, während die Maschine fiel. Sie waren am Ortsrand, sanken weiter auf die Dächer zu, in den Straßen waren die Leute stehen geblieben und drehten die Köpfe nach oben, noch weiter ließ Luise die Maschine sinken, und dann zog sie die Lu 1911 präzise links an der Kugel vorbei, fast berührte die Tragfläche mit der Spitze den Turm, sie nahm das Flugzeug aus dem Schwung, aus dem Sturz heraus wieder nach oben, der Motor war auf Volllast, sie wurden in ihre Sitze gedrückt und stiegen, stiegen, stiegen. Es war wie ein Rausch. Auf einmal sah sie, wie Georg vor ihr aus seinem Sitz aufstand, sich vorne festhielt und sich ganz dem Wind aussetzte, dem Gefühl des Steigens und Fliegens, und sie hörte ihn schreien, vor Glück oder Stolz oder weil er frei war oder weil er alles auf einmal fühlte.
    Luise nahm wieder Kurs nach Südwesten und dann, nach nur fünf Minuten Flug, in denen sie vielleicht noch zehn Kilometer zurücklegten, waren sie dort, wo Luise Georg hinbringen wollte. Ein Stückchen folgte sie dem Bach, dann erschien im Tal die liegende Acht eines kleinen Sees. Luise nahm Gas weg und flog so langsam, wie es nur möglich war. Sie neigte das Flugzeug in einen Bogen und begann, einen weiten Kreis über der Ruine zu fliegen, auf der sie damals das erste Mal miteinander gesprochen hatten. Dort, wo sie vor vielen Jahren am Feuer gesessen und vom Fliegen geträumt hatten. Luise sah, wie

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