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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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konnte landen. Sie war schon von schlechteren Flugplätzen losgeflogen. Sie ging nach vorne und prüfte den Propeller sorgfältig auf Beschädigungen, wie sie es gelernt hatte. Den musste Georg zugekauft haben, denn er war zwar auch gebraucht, sah aber tadellos aus, und auch die Stellung war richtig. Sie bückte sich unter einem der Flügel durch und sah, dass er das Flugzeug sogar getauft hatte. Lu 1911 stand da in schwarzen Schablonenbuchstaben sauber auf die Unterseite gepinselt. 1911 war ihr Geburtsjahr. Das Blut stieg ihr ein wenig in die Wangen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Georg das überhaupt wusste. Sie stieg auf den Flügel, dann auf den Rumpf und kletterte vor zum Motor, schraubte den Tankdeckel auf und steckte den Finger hinein. Voll.
    »Weißt du, was du tun musst?«, fragte sie, als sie sich in den Sitz gleiten ließ.
    »Ich bin Automechaniker«, rief Georg zurück, »beleidige mich nicht.«
    Sie öffnete den Benzinhahn und Georg hängte sich an den Propeller. Luise setzte sich zurecht. Der Pilotensitz war nichts anderes als ein Korbstuhl, dessen Beine Georg abgesägt hatte. Alles an der Maschine war ungewohnt, aber die wichtigsten Sachen waren ungefähr so, wie es sich gehörte. Der Steuerhebel entstammte ganz offensichtlich einem Lastkraftwagen und der Gashebel einem Auto. Georg hatte manches ziemlich schöpferisch umgewandelt und ihr, die sie andere Maschinen gewohnt war, kam manches abenteuerlich vor. Aber andererseits sah sie auf den ersten Blick nichts, was nicht funktionieren würde. Georg war Mechaniker. Er dachte technisch, so wie sie.
    Der Motor sprang beim zweiten Mal an. Luise gab Gas, und er reagierte einwandfrei. Ob man einen Looping fliegen konnte? Sie musste Georg fragen, ob er die Benzinleitungen so verbaut hatte, dass sie auch kopfüber funktionierten, aber darauf kam es jetzt nicht an. Jetzt musste man sehen, ob das Ding wirklich flog.
    »Steig ein!«, brüllte sie durch den Lärm und machte ihm ein Zeichen. Er kletterte den Flügel hoch und ließ sich in den Sitz vor ihr gleiten.
    Dann drehte er sich um, lächelte sie an und hob den Daumen. »Ich habe Angst!«, brüllte er.
    Luise nickte lachend. »Ich auch!«
    Dann gab sie Gas, und das Flugzeug begann zu rollen.
    Die Seitenruder waren ein wenig schwergängig, und überhaupt fühlte sich alles etwas zäher und schwerfälliger an als bei den Flugzeugen, die sie gewohnt war, doch die Maschine nahm Fahrt auf, und sie rollten über die Wiese. Am Waldrand angelangt drehte sie, um gegen den Wind starten zu können.
    Georg wandte sich zu ihr um. »Alles in Ordnung?«, fragte er durch den Lärm.
    »Bis jetzt ja, aber wir sind ja noch unten!«, schrie Luise zurück. »Ob es was taugt, sehen wir oben. Sollen wir?«
    Georg nickte, aber sie bemerkte, dass er tatsächlich etwas blass aussah. Sie gab Vollgas, der Propeller fing an zu wirbeln, die Blätter verschwammen, und das Flugzeug machte einen Satz nach vorn. Sie holperten über das Gras. So war es immer – erst sah alles eben und glatt aus, aber je schneller man war, desto härter wurden die Stöße. Der gegenüberliegende Waldrand kam bedenklich nah, aber Luise wartete. Sie sah, wie Georg sich in den Sitz drückte und verzog den Mund zu einem kurzen Lächeln. Das kannte sie – die Angst, gleich das Ende der Bahn erreicht zu haben und Bruch zu machen. Aber sie spürte schon, wie die Maschine Luft unter die Tragflächen bekam, die Sprünge wurden länger, sie hielt den Gashebel bis zum Anschlag gezogen, der Motor brüllte, die Bäume waren noch dreißig, noch zwanzig Meter entfernt, sie hörte Georg »Stopp!« schreien und zog sanft, wie sie es gelernt hatte, den Steuerknüppel zu sich, spürte den Zug des Höhenruders, alles Holpern war auf einmal weg, und die Maschine stieg mit schönem Schwung über die Bäume hinweg. Sie flogen.
    »O Gott!«, hörte sie Georgs verwehte Stimme. Die Knöchel seiner Hände an der Bordwand traten weiß hervor. Luise hielt die Maschine weiter auf Steigflug. Sie hatte schon vergessen, wie das war. Dieses wunderbare Gefühl, wenn unter einem der Boden sanft fortkippte. Wenn man durch die warme Luft nach oben stieg, wie wenn man nach einem Sprung ins Becken sehr tief getaucht war und von ganz allein nach oben trieb, zum Licht, zur Luft. Sie flogen immer höher in den juliblauen Himmel, und Luise atmete, als ob sie monatelang die Luft angehalten hätte. Der Motor arbeitete einwandfrei, der Propeller zog, und jetzt waren sie sicher schon um die dreihundert

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