Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Lotterielos. Nr. 9672

Ein Lotterielos. Nr. 9672

Titel: Ein Lotterielos. Nr. 9672 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
selbst-
    verständlich, daß jeder Reisende am Tag wie in der Nacht
    in das Wohnhaus der Gaards (Gehöfte) oder Säters (Land-
    güter) eintreten können müsse, ohne daß ihm jemand erst
    zu öffnen brauche.
    Eine Heimsuchung durch Landstreicher oder andere
    — 7 —
    Übeltäter ist hier weder in vereinzelten Pachthöfen noch
    in den oft weit im Land verlorenen Weilern zu befürchten,
    und kein verbrecherischer Anschlag gegen Gut oder Leben
    hat je die Sicherheit der friedlichen Bewohner gestört.
    Mutter und Tochter bewohnten zwei Stübchen an der
    Vorderseite des 1. Stockwerks der Herberge, zwei kühle,
    saubere Stübchen, freilich mit einer nur bescheidenen Aus-
    stattung, die aber nirgends das Schaffen und Walten ver-
    ständig sorgender Hände vermissen ließ. Darüber und un-
    ter dem Dach, das gleich dem einer Sennhütte ein Stück
    vorsprang, befand sich das Stübchen Joels, das durch ein
    mit geschmackvoll geschnitztem Tannenholzrahmen ver-
    sehenes Fenster erhellt wurde. Von hier aus umfaßte der
    Blick einen Horizont von mächtigen Bergen und konnte
    auch bis zum Grund des engen Tals hinausschweifen, das
    der Maan – halb ein Bergbach, halb ein Flüßchen – mur-
    melnd durchzog. Eine Holztreppe mit festem Geländer und
    spiegelblanken Stufen führte von der großen Stube des Erd-
    geschosses aus nach den oberen Stockwerken. Man konnte
    sich kaum etwas Anheimelnderes denken als den Anblick
    dieses Hauses, in dem der Reisende eine in den Landgast-
    höfen Norwegens seltene Bequemlichkeit vorfand.
    Hulda und ihre Mutter bewohnten also das 1. Stockwerk,
    wohin sie sich, wenn sie allein waren, stets zeitig zurückzo-
    gen. Schon hatte Frau Hansen, die einen buntfarbigen Glas-
    leuchter in der Hand hielt, die ersten Stufen erstiegen, als
    sie plötzlich noch einmal stehenblieb.
    Draußen klopfte es an die Tür, und eine Stimme rief:
    — 8 —
    »He, Frau Hansen! Frau Hansen!«
    Die Gerufene ging wieder hinunter.
    »Wer könnte so spät noch kommen?« sagte sie.
    »Es wird doch Joel kein Unfall zugestoßen sein!« rief
    Hulda erschrocken.
    Sie eilte sofort zur Tür.
    Davor stand ein junger Bursche – einer jener halbwüch-
    sigen Jungen, die häufig als Skydskarl (Schußknecht) die-
    nen, als welcher sie hinten auf dem Karren Platz nehmen
    und nach zurückgelegter Fahrtstrecke das Pferd nach der
    betreffenden Station heimzuführen haben. Dieser hier war
    zu Fuß gekommen und stand dicht vor der Schwelle.
    »Nun, was willst du noch zu dieser Stunde?« fragte
    Hulda.
    »Zunächst Ihnen einen guten Abend wünschen«, ant-
    wortete der Bursche.
    »Ist das alles?«
    »Nein, gewiß nicht, doch muß man zuerst nicht immer
    höflich sein?«
    »Du hast recht. Doch wer sendet dich?«
    »Ihr Bruder Joel schickt mich.«
    »Joel.? Und weshalb?« ließ sich Frau Hansen verneh-
    men.
    Sie ging dabei mit jenem langsamen, gemessenen Schritt,
    der den Bewohnern Norwegens eigentümlich ist, nach der
    Tür zu. In den Adern ihres Erdbodens mag sich vielleicht
    Quecksilber finden, in den Adern der Leute hier fließt ge-
    wiß keines.
    — 9 —
    Jene Antwort hatte die Mutter aber offenbar etwas beun-
    ruhigt, denn sie beeilte sich, ihrer Frage hinzuzufügen:
    »Meinem Sohn ist doch nichts zugestoßen?«
    »Doch! Mit dem Postkurier von Christiania ist ein Brief
    von Drammen eingetroffen . . .«
    »Ein Brief, der von Drammen kommt?« fragte Frau Han-
    sen, die Stimme senkend, rasch.
    »Das kann ich nicht behaupten«, antwortete der Bur-
    sche. »Ich weiß nur, daß Joel vor morgen nicht nach Hause
    kommen kann und daß er mich hierher geschickt hat, um
    diesen Brief abzugeben.«
    »Ist er denn so eilig?«
    »Es scheint so.«
    »Gib her«, sagte Frau Hansen in einem Ton, der ihre leb-
    hafte Unruhe verriet.
    »Hier ist er ganz sauber und unzerknittert, für Sie ist der
    Brief aber gar nicht.«
    Frau Hansen schien erleichtert aufzuatmen.
    »Für wen denn?« fragte sie.
    »Für Ihre Tochter.«
    »Für mich!« rief Hulda. »Das ist bestimmt ein Brief von
    Ole, der über Christiania eingetroffen sein wird. Mein Bru-
    der hat mich nicht darauf warten lassen wollen!«
    Hulda hatte das Schreiben in Empfang genommen, und
    nachdem sie den auf einem Tisch niedergesetzten Leuchter
    herbeigeholt hatte, sah sie die Adresse genauer an.
    »Ja, es ist von ihm! Es ist wahrhaftig von ihm. Oh, könnte
    er mir melden, daß die ›Viken‹ nun heimkehren wird!«
    — 10 —
    Inzwischen sagte Frau Hansen zu dem Burschen:
    »Du kommst ja gar nicht

Weitere Kostenlose Bücher