Ein Lotterielos. Nr. 9672
Felsrückens auch
nicht ganz gefahrlos war, so ging die Sache doch besser, als
sie gehofft hatten. Der Reisende war in der Tat ohne Kno-
chenbruch und Gliederverrenkung davongekommen, er
hatte sich nur eine ziemlich lange und tiefreichende Haut-
abschürfung zugezogen. Jedenfalls konnte er aber beide
Beine besser gebrauchen, als er vorher selbst glaubte, wenn
es auch nicht ohne Schmerz für ihn abging. 10 Minuten
später waren alle jenseits des Maristien in Sicherheit.
Hier hätte der Fremde unter den ersten Weiden, die
den oberen Fjeld des Rjukanfos begrenzen, etwas ausruhen
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können; Joel mutete ihm aber noch eine weitere kleine An-
strengung zu. Es lag ihm daran, eine unter den Bäumen ver-
lorene Hütte, wenige Schritte hinter dem Felsen, wo er mit
seiner Schwester gesessen hatte, als sie nach dem Fall ka-
men, zu erreichen. Der Reisende versuchte bereitwillig die-
ser Aufforderung nachzukommen, und auf der einen Seite
von Hulda, auf der anderen von Joel unterstützt, gelang es
ihm auch, und er stand bald, ohne zu viel gelitten zu haben,
vor der Tür der Hütte.
»Treten Sie ein, mein Herr«, sagte da das junge Mädchen,
»hier können Sie besser einen Augenblick ausruhen.«
»Wird dieser Augenblick sich auf eine gute Viertelstunde
ausdehnen dürfen?«
»Gewiß, werter Herr; dann werden Sie sich aber schon
dazu verstehen müssen, mit uns bis nach Dal zu gehen.«
»Nach Dal? O, gerade dahin wollte ich mich ja bege-
ben.«
»Wären Sie vielleicht der Reisende«, fragte Joel, »der vom
Norden herkommt und dessen Eintreffen mir von Hardan-
ger gemeldet wurde?«
»Derselbe.«
»Meiner Treu, da hatten Sie nicht gerade den besten Weg
eingeschlagen . . .«
»Ich hege daran auch einigen Zweifel.«
»Und wenn ich hätte voraussehen können, was Ihnen
widerfahren ist, hätte ich Sie bestimmt an der anderen Seite
des Rjukanfos erwartet.«
»Das wäre freilich ein recht glücklicher Einfall gewe-
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sen, mein wackerer junger Mann. Sie hätten mir da eine für
mein Alter ganz unverzeihliche Unbesonnenheit mit deren
Folgen erspart.«
»Für jedes Alter, werter Herr!« ließ sich Hulda verneh-
men.
Alle drei betraten nun die Hütte, in der sich eine ganze
Bauernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Töch-
tern aufhielt. Diese erhoben sich alle höflich und bewill-
kommneten freundlich die unerwarteten Gäste.
Joel konnte sich nun überzeugen, daß der Reisende nur
ein wenig unter dem Knie eine ziemlich lange Hautwunde
hatte, die zur Heilung gewiß 1 Woche Ruhe bedurfte. Das
Bein war aber weder verrenkt noch gebrochen, überhaupt
kein Knochen dabei verletzt worden, und das war ja die
Hauptsache.
Die Bewohner der Hütte boten den Gästen vorzügliche
Milch, Erdbeeren im Überfluß und etwas Schwarzbrot an,
was ebenso gern angenommen wurde.
Joel tat sich gar keinen Zwang an und zeigte einen recht
tüchtigen Appetit, wenn dagegen Hulda nur wenig aß, so tat
es der Reisende desto mehr ihrem Bruder nach.
»Wahrlich«, sagte er, »diese Leibesübung hat mir den
Magen leergemacht, ich gestehe jedoch gern zu, daß es eine
große Unbesonnenheit war, den Weg über den Maristien
einzuschlagen. Es ist doch recht töricht, die Rolle des un-
glücklichen ›Eystein‹ spielen zu wollen, wenn man sein Va-
ter . . . sogar sein Großvater sein könnte!«
»Ah, Sie kennen also jene Sage?« fragte Hulda.
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»Und ob ich sie kenne . . . Meine Amme sang mich schon
damit in Schlaf, zu jener glückseligen Zeit, wo ich noch
eine Amme hatte. Ja, ich kenne sie, Sie liebes, mutiges Kind,
und deshalb erscheine ich mir doppelt strafbar. – Und nun,
mein Freund, Dal ist für einen Invaliden, wie ich jetzt bin,
noch ein wenig weit. Wie denken Sie mich dahin befördern
zu können?«
»Darum beunruhigen Sie sich nicht, mein Herr«, ant-
wortete Joel. »Unser Schußkarren wartet unten am Fußweg.
Sie werden nur 300 Schritte zu gehen haben . . .«
»Hm, 300 Schritte!«
»Und bergabwärts«, fügte das junge Mädchen hinzu.
»O, wenn es bergab geht, dann wird es schon gehen, lie-
ber Freund; dann genügt mir schon ein einziger Arm . . .«
»Und warum nicht zwei«, fiel ihm Joel ins Wort, »da wir
ja vier zu Ihrer Verfügung haben?«
»Nun, mögen’s zwei oder vier sein! Das kostet doch nicht
mehr, nicht wahr?«
»Das kostet gar nichts.«
»Doch, mindestens einen Dank, und da fällt mir ein, daß
ich Ihnen noch nicht einmal meinen Dank zu
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