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Ein Lotterielos. Nr. 9672

Ein Lotterielos. Nr. 9672

Titel: Ein Lotterielos. Nr. 9672 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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erhob sich eine Art dichter Nebel inmitten der
    bläulichen Ferne. Das waren die zerstäubten Gewässer des
    Rjukan, die sich wolkenartig zu großer Höhe erhoben.
    Hulda und Joel benutzten nun einen den Führern wohl-
    bekannten Fußpfad, der nach der engsten Stelle des Tals hi-
    nableitet und auf dem sie zwischen Bäumen und Büschen
    hindurchgleiten mußten. Kurze Zeit darauf saßen beide
    schon auf einem von gelblichem Moos bedeckten Felsstück,
    fast genau gegenüber dem Fall, dem man nur von dieser
    Seite so nah kommen kann.
    Hier hätten die Geschwister Mühe gehabt, einander zu
    verstehen, wenn sie gesprochen hätten. Ihre Gedanken wa-
    ren aber von der Art, die sich, ohne daß die Lippen sie aus-
    sprechen, durch das Herz allein mitteilen.
    Die Wassermasse des Rjukan ist ungeheuer, seine Höhe
    sehr bedeutend und sein donnerndes Rauschen wahrhaft
    überwältigend. 900 Fuß tief fehlt hier im Bett des Maan,
    zwischen dem Mjös-See stromauf- und dem Tinn-See
    stromabwärts, plötzlich der Boden. 900 Fuß, das heißt
    sechsmal so hoch wie der Niagara, dessen Breite vom ame-
    rikanischen bis zum kanadischen Ufer freilich 3 (englische)
    Meilen beträgt.
    Hier bietet der Rjukanfos einen so großartigen Anblick,

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    daß man diesen durch eine Beschreibung nur sehr schwer
    wiederzugeben vermag; selbst die Malerkunst würde nicht
    imstande sein, ihn ganz entsprechend darzustellen. Es gibt
    eben gewisse Wunderwerke der Natur, die man sehen muß,
    um ihre Schönheit ganz zu verstehen; dazu gehört auch die-
    ser Wasserfall, der berühmteste unter allen Fällen des euro-
    päischen Festlands.
    Gerade jetzt saß auch ein Tourist im Anschauen ver-
    sunken auf der linken Felswand des Maan, von wo er den
    Rjukanfos ganz aus der Nähe und vom höchsten Stand-
    punkt aus betrachten konnte.
    Weder Joel noch Hulda hatten ihn bisher bemerkt, ob-
    gleich er von ihrem Platz aus sichtbar war. Es war nicht die
    Entfernung, sondern eine in Berggegenden oft bemerkte
    optische Wirkung, die ihn sehr klein und deshalb weit ent-
    fernter, als er wirklich von ihnen war, erscheinen ließ.
    In diesem Augenblick hatte sich der Reisende gerade er-
    hoben und wagte sich schon ziemlich unbedacht auf einen
    Felsenvorsprung hinaus, der kuppelartig über das Bett des
    Maan hinausging.
    Er wollte offenbar die beiden Höhlen des Rjukanfos,
    eine zur rechten, die andere zur linken, sehen, von denen
    die erstere immer mit dichten Dunstmassen, die zweite von
    brodelndem Wasser erfüllt ist. Vielleicht suchte er auch zu
    erkennen, ob sich nicht noch eine dritte niedrigere, etwa
    in halber Höhe des Falls gelegene Höhle entdecken ließe.
    Dadurch würde sich nämlich erklären, warum der Rjukan,
    nachdem er in eine solche gestürzt, zu gewissen Perioden
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    in starkem Schwall rückwärts zu springen scheint. Man
    möchte sagen, das Wasser würde durch eine Minenspren-
    gung, die durch ihre Dampfwolken die umgebenden Fjelds
    verhüllt, in die Höhe geschleudert.
    Noch immer schritt der Tourist auf diesem abgerunde-
    ten, steinigen und schlüpfrigen Rücken weiter vor, auf dem
    sich keine Baumwurzel, kein Gras oder Strauch findet und
    der den Namen Maristien führt.
    Der Unvorsichtige kannte offenbar die Fabel nicht, die
    diese Stelle berühmt gemacht hat. Eines Tages wollte Eystein
    auf diesem gefährlichen Weg die schöne Mari von Vest-
    fjorddal besuchen. Von der anderen Seite der Bergschlucht
    streckte ihm seine Braut die Arme entgegen. Plötzlich ver-
    liert er den Halt, fällt und gleitet aus, ohne sich auf der eis-
    glatten Felsfläche anklammern zu können, und verschwin-
    det im Abgrund, ohne daß die Stromschnellen des Maan je
    nur seinen Leichnam wieder zurückgegeben hätten.
    Was dem unglücklichen Eystein widerfahren war, sollte
    das auch dem Unbesonnenen begegnen, der sich auf diesem
    Abhang des Rjukanfos immer weiter vorwagte?
    Das war wohl zu fürchten. Er wurde auch endlich selbst
    der Gefahr gewahr, doch leider zu spät. Plötzlich fehlte sei-
    nem Fuß jeder Stützpunkt, er stieß einen Schrei aus, rollte
    etwa 20 Schritt weit hinunter und hatte nur noch Zeit, sich
    an einem vorspringenden Felsstück, dicht am Rand des Ab-
    grunds festzuhalten.
    Joel und Hulda hatten ihn auch jetzt noch nicht bemerkt,
    aber ihn nun gehört.
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    »Was war das?« rief Joel, sich erhebend.
    »Ein Schrei«, antwortete Hulda.
    »Ja . . . ein Verzweiflungsschrei!«
    »Von welcher Seite . . .?«
    »Hören wir!«
    Beide

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