Ein Lottogewinn und 8 Millionen andere Probleme
sie sehr rücksichtsvoll. Sie würde nicht wollen, dass wir uns Sorgen machen.«
»Hat sie einen Freund?«, fragte der Polizist.
»Auf keinen Fall. Sie ist doch erst vierzehn«, antwortete Dad.
Ich schrieb eine SMS nach der anderen. Wo bist du, Nat?
Na los, schreib zurück!
Ich tippte so energisch, als könnte ich meine Schwester dadurch zwingen, sich zu melden.
»Sie hat in letzter Zeit oft bei Freundinnen übernachtet«, sagte Mum. »Seit Lias Lottogewinn geht es bei uns ziemlich turbulent zu. Ich habe erst heute Abend gemerkt, dass ich gar nicht weiß, wo Natasha steckt. Sie hat nicht angerufen, dass sie zu einer Freundin geht. Ich habe alle ihre Freundinnen durchtelefoniert und noch ein paar andere Mitschülerinnen, aber niemand wusste etwas. Das sieht Natasha gar nicht ähnlich, stimmt’s, Lia?«
»Heute Vormittag war sie noch beim Gesangsunterricht«, sagte Dad. »Ich dachte eigentlich, sie kommt hinterher in die Bäckerei, aber sie ist nicht erschienen.«
Mum brach wieder in Tränen aus. »Wo kann sie nur sein, Ben? Warum haben wir nichts gemerkt? Wir sind schlechte Eltern! Es ist alles meine Schuld!«
Ich hatte im Hotel noch schnell geduscht, meine Sachen gepackt, an der Rezeption eine Nachricht für Olivia hinterlegt und mit Raf ein Taxi genommen. An der Hauptstraße hatte ich ihn rausgelassen. Während der Fahrt hatten wir kaum miteinander gesprochen. Ich telefonierte mit Mum und rief Nats alte Freundinnen an, deren Nummern ich gespeichert hatte. Viele Nummern waren es nicht. Früher hatte sie sich ja nur mit ein, zwei Mädchen getroffen.
Raf küsste mich beim Aussteigen. »Ruf mich an, wenn ich irgendwas tun kann, okay?«, sagte er. »Aber wirklich!«
»Mach ich – danke«, erwiderte ich und telefonierteweiter. Als ich aufblickte, sah ich ihn davongehen. Er drehte sich noch einmal um und sein Gesicht strahlte immer noch vor Glück. Ich hatte ihn so glücklich gemacht.
Aber dann dachte ich nicht mehr an ihn, weil ich mit Natashas Verschwinden beschäftigt war.
Gestern war sie zur üblichen Zeit aus der Schule gekommen. Mum und Dad hatten sie gefragt, ob sie mit ins Kino wolle, aber sie hatte abgelehnt. Heute Vormittag war sie dann zum Gesangsunterricht gegangen.
»Sie war sehr still«, sagte Mum, »aber das ist bei ihr ja normal.«
Danach war sie nicht mehr aufgetaucht. Sie ging auch nicht an ihr Handy. Daraufhin hatten meine Eltern erst mich und dann die Polizei angerufen.
»Wahrscheinlich ist sie mit ihren Freundinnen unterwegs und der Akku ist leer«, meinte ich. Allerdings behandelte Natasha ihr Handy so fürsorglich wie ein Neugeborenes und achtete immer darauf, dass es aufgeladen und dass genug Guthaben drauf war. Ich wollte Mum eigentlich beruhigen, erreichte aber genau das Gegenteil.
»Oh nein … dann kann sie nicht mal Hilfe herbeirufen!«
Mum hatte dem Polizisten eine Liste von Nats Freundinnen gegeben. Er forderte mich auf, einen Blick darauf zu werfen.
»Du und deine Schwester, ihr seid doch auf der gleichen Schule. Ist dir in letzter Zeit aufgefallen, dass sie besonders oft mit jemandem zusammen war? Mit irgendwelchen Jungs vielleicht?«
Mums Liste von Nats »Freundinnen« war optimistisch lang. Sie hatte sogar Natashas Mitschülerinnen aus der Grundschule aufgeschrieben, mit denen Nat schon damals nicht viel zu tun gehabt hatte. Außerdem natürlich sämtliche Mädchen aus ihrer jetzigen Klasse und ein paar Jungen.
Ich unterstrich die Namen der Mädchen, die mit uns im Kaufhaus gewesen waren: Sophie, Molly und Keira.
»Mit denen ist sie am meisten zusammen, aber ich mag sie nicht besonders. Ich habe sie zum Shoppen eingeladen und sie haben sich nicht mal richtig bedankt.«
Mum heulte immer noch, aber jetzt bekam sie einen Lachanfall und verschluckte sich. Sie hustete und prustete und ich gab ihr ein Taschentuch.
»Dass ich so was aus deinem Mund höre, Lia!«
»Ich will euch nur helfen«, sagte ich beleidigt. »Die drei nutzen einen bloß aus.«
»Mir fällt gerade ein, dass ich Natasha doch mal mit einem Jungen gesehen habe«, meldete sich Dad wieder zu Wort. »Raf heißt er. Er hat sich neulich in unserer Bäckerei um einen Job beworben. Natasha und er haben sich angeregt unterhalten. Ich hatte den Eindruck, dass die beiden dicke Freunde sind.«
Wie bitte? Raf? Natasha? Dicke Freunde?
»Vielleicht ist Ihre Tochter ja bei ihm«, meinte der Polizist. »Haben Sie seine Adresse oder Telefonnummer?«
Ich biss mir auf die Zunge. Ich hätte dem Polizisten erzählen
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