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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bezahlt wird.
    Auch hier werde ich nicht hinüberkommen, dachte Anuschka und drückte den kleinen Koffer an sich. Ich werde zurückfliegen müssen und versuchen, durch eine weichere Grenze zu kommen … nach Polen, in die Tschechoslowakei, nach Ungarn … überall wird es leichter sein als an dieser Mauer aus Betonblöcken.
    Sie löste sich aus dem Schutz der Häuser und machte ein paar Schritte von der Mauer weg. In diesem Augenblick durchzuckte sie wieder ein Stich im Leib, sie spürte, wie sie schwankte, wie sich die Straße zu drehen begann, wie der Himmel sich senkte und der Asphalt zum Himmel wurde, wie ihre Sinne wegglitten und sie nur einen fernen Ruf noch aufnahm … eine fremde Sprache, fremde Hände griffen nach ihr, sie verlor den Halt unter den Füßen, sie schwebte, sie wurde schwerelos … ein Gesicht war über ihr, eine amerikanische Uniform, ein Mund, der unhörbare Worte ausstieß, und dann war sie ohne Besinnung und hing in den Armen eines amerikanischen Soldaten.
    »Come on!« brüllte der Gefreite Jim Slake seinen beiden Kameraden zu, die neben einem Jeep standen und Gummi kauten. Er hielt Anuschka umschlungen und schleifte sie zum Wagen. »Zur Ambulanz, Boys! Das Baby hat die Besinnung verloren …«
    Eine Stunde später lag Anuschka im amerikanischen Militärhospital, und eine junge amerikanische Schwester flößte ihr durch ein Röhrchen Orangensaft zwischen die fest zusammengepreßten Lippen.
    Neben dem Bett saß ein Leutnant und nickte ihr freundlich zu, als Anuschka die Augen aufschlug.
    »Guten Tag, Fräulein Turganow«, sagte der amerikanische Leutnant auf russisch. »Wie geht es Ihnen?«
    »Gut.« Anuschka richtete sich auf. Man hatte sie ausgezogen und sie in einen Nylonschlafanzug gesteckt. Da er sehr durchsichtig war, legte sie verschämt beide Arme über ihre Brust. Der junge Leutnant lächelte diskret. »Wo bin ich hier?«
    »Bei Freunden, nehme ich an. Was wollten Sie an der Mauer?«
    »Hinüber.«
    »Zu Ihren Landsleuten?«
    »Ja.«
    »Und was machen Sie im Westen? Wer hat Ihnen den Paß gegeben? Er ist in Köln ausgestellt.«
    »Das ist eine lange Geschichte.« Anuschka legte sich schwach zurück. »Können Sie dafür sorgen, daß man mich abholt und nach drüben schafft?«
    »Ich glaube kaum, Fräulein Turganow.« Der junge Leutnant schüttelte leicht den Kopf. »Wir werden erst nachprüfen, wer Sie sind.«
    »Ich bin die Frau Tinjas.«
    »Wer ist Tinja.«
    »Mein Geliebter. Martin Abels in Bremen.« Anuschka schloß die Augen. Meine Reise ist zu Ende, dachte sie. Ich habe es dumm angefangen.
    Vier Stunden später führten zwei amerikanische Offiziere Martin Abels durch die blitzsauberen Gänge des amerikanischen Militärhospitals. Über zwei Stunden hatte der CIC in einem Nebengebäude Martin Abels verhört, hatte in Köln zurückgefragt, hatte telegrafisch alle Angaben überprüfen lassen. Es stimmte, so unglaublich es klang. Ein Major sagte, was die anderen dachten:
    »Mr. Abels, das ist die tollste Story des Jahrzehnts. Damit sollten Sie zur LIFE gehen und zu Metro-Goldwyn-Mayer. Da können Sie was draus machen! Ihr Mädchen aus Torusk liegt nebenan auf Zimmer 185! Sie hat einen Schwächeanfall bekommen. Kein Wunder, wo sie im vierten Monat ist.«
    »Im was?« fragte Martin Abels und wurde rot.
    Der Major lachte. »Okay, Mr. Abels. Das wird ein kleiner Sibiriake! Gratuliere! Und nun gehen wir mal zu dem Baby. Sie können sie im übrigen mitnehmen, wenn Sie wollen.«
    »Und ob ich will, Major …« sagte Martin leise.
    Ein Kind. Anuschka bekommt ein Kind. Das Wiedersehen in Torusk, die glücklichen Stunden in Turganows Hütte, die Seligkeit, sich zu lieben, unter einem Bärenfell – ein Kind.
    Er taumelte hinter dem Major her den Gang entlang, bis er vor Zimmer Nr. 185 stand. Dort blieb der Major stehen und nickte. »Gehen Sie allein rein, Mr. Abels. Aber heute abend sind Sie unser Gast. Ich werde einen Freund von der New York Times einladen. Auf solche Geschichten sind sie scharf drüben in den Staaten.«
    Er klopfte Abels wieder freundschaftlich auf die Schulter, klinkte die Tür auf und gab ihm einen Schubs.
    »Anuschka«, sagte Abels leise, als er im Zimmer stand.
    Sie hatte den Kopf zur Wand gedreht. Bei seiner Stimme fuhr sie herum und sprang aus dem Bett. Sie breitete die Arme aus und warf den Kopf weit in den Nacken.
    »Tinja –« rief sie. »Verzeih mir, Tinja –«
    Er fing sie auf und drückte sie an sich. Sie zitterte, und er trug sie wieder zum Bett, legte sie

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