Ein Mädchen aus Torusk
diensthabende Arzt gedehnt, als sich Abels vorgestellt hatte. Er war vom Oberarzt von dem Besuch unterrichtet worden. Der alte Holgerson saß oben neben dem Bett Inkens in einem Lehnstuhl und beobachtete jede Regung seines Kindes. Eine Schwester war ebenfalls ständig im Zimmer, um sofort einzugreifen. »Das war eine sehr schwere Operation. Wir mußten den Brustkorb öffnen und den Thrombus entfernen.«
»Und wie geht es ihr?« fragte Abels gepreßt.
»Den Umständen entsprechend zufriedenstellend.«
»Das heißt also: schlecht!« Abels lächelte bitter. »Ich kenne diese ärztliche Sprache.«
»Man kann noch gar nichts sagen. Fräulein Holgerson hat ein starkes Herz und ist jung … sie müßte es schaffen. Und Lebensmut hat sie auch … sollte sie haben …«
»Darum sind wir ja gekommen, Doktor.«
»Ich komme mit, meine Herrschaften.« Der junge Arzt ging voraus, während die Nachtschwester wieder in den Glaskasten der Aufnahme verschwand.
Im Zimmer war die kleine Nachttischlampe mit einem Tuch abgedeckt. Holgerson drehte den Kopf in seinem Lehnstuhl, als die Tür leise aufging. Die Schwester erhob sich von ihrem Stuhl am Tisch und ging leise den Eintretenden entgegen.
»Nichts Neues, Herr Doktor. Sie ist noch besinnungslos.« Dann nickte sie Abels und Anuschka zu und gab ihnen die Hand. »Schwester Letitia. Es ist gut, daß Sie so schnell gekommen sind.« Dabei warf sie einen Blick auf die zusammengesunkene Gestalt in dem Lehnstuhl. Reeder Holgerson erhob sich ächzend und kam mit schleppenden Schritten heran. Nichts mehr an ihm erinnerte noch an den agilen, lebenslustigen, fröhlichen Mann, dem man angesehen hatte, daß er das Leben und das Geld liebte und gewohnt war, zu herrschen und die Erfüllung seines Willens vorauszusetzen.
»Martin«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme, »ich danke Ihnen.« Er beugte sich über Anuschkas Hand und küßte sie, aber es war eine müde Galanterie, mehr eine Gewohnheitssache. Etwas unendlich Trauriges lag in seinen Bemühungen, Anuschka gegenüber noch immer eine gewisse männliche Stärke zu zeigen.
»Ich mache mir Vorwürfe, Herr Holgerson …« sagte Abels gepreßt. Er sah hinüber auf das schmale, von den vollen braunen Haaren umrahmte Gesicht, das in dem Kopfkissen fast verschwand, so zart und durchsichtig war es geworden. Es war ein Puppenkopf, an dem man vergessen hatte, die rosige Farbe aufzutragen.
»Vorwürfe? Aber wieso denn?«
»Hätte ich Inken nicht zu der Beinoperation geraten, wäre es nie zu einer Embolie gekommen.«
»Es ist eine Dummheit, jetzt solche Gedanken zu haben, Martin. Wer konnte mit solchen Komplikationen rechnen?«
Anuschka war unterdessen an das Bett getreten und beugte sich tief über Inken. Es war, als wolle sie mit ihren Lippen spüren, ob noch Leben in dem bleichen Körper war. Ganz leicht legte sie ihre rechte Hand auf Inkens Stirn und strich über sie hinweg. Du hast Tinja so geliebt, wie ich ihn liebe, dachte sie dabei. Du armes, reiches Mädchen … ich würde sterben, wenn ich du wäre. Ich könnte nicht mehr ohne Tinja leben …
»Die Operation ist gelungen«, sagte Holgerson und schlurfte zu seinem Lehnstuhl zurück. »Ärztlicherseits ist also alles geschehen. Was jetzt kommt, liegt in Gottes Hand – wie man so wundervoll ohnmächtig sagt. Wir können nur noch warten und hoffen, und wenn wir uns Kraft davon versprechen – beten.« Er setzte sich und faltete die Hände. »Es ist schrecklich, Martin … ich kann es nicht. Ich habe zum letztenmal bei meiner Konfirmation gebetet. Ich käme mir dumm und dreist vor, wenn ich jetzt Gott bitten sollte, mir, gerade mir zu helfen. Man bettelt nicht bei einem, den man Jahrzehnte lang verspottet und getreten hat.«
Der alte Holgerson senkte den Kopf und schloß die Augen. »Jetzt fehlt mir die Stärke, das hier durchzuhalten. Verstehen Sie das, Martin?«
»Sie sollten ins Hotel gehen und schlafen, Herr Holgerson.«
»Schlafen?« Der Reeder sah Abels an, als habe er etwas Ungeheuerliches gesagt. »Könnten Sie schlafen, wenn Anuschka dort läge?«
»Um Himmels willen, nein!«
»Inken ist der ganze Sinn meines Aufstiegs und meines Lebens. Für wen habe ich meine Werften aufgebaut und vergrößert? Für mich? Ich hätte mir ein gemütlicheres Leben denken können, auf Teneriffa oder an der Riviera. Was ich hatte, war genug für ein sorgloses Leben. Aber ich wollte Inken ein Erbe hinterlassen, das sie und ihre Kinder einmal aller Sorge enthebt. Und nun das, Martin. Wenn Inken
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