Ein Mädchen aus Torusk
nehm ick dir mit, von wejen Jenosse …«
Anuschka ging weiter. Sie stand in einem Hauseingang und beobachtete den Checkpoint Charly über eine Stunde lang. Als ein amerikanischer Sergeant auf sie zutrat und zu ihr sagte: »Na, Frollein … come mit in the Bett?« drängte sie sich an ihm vorbei aus der Haustür und lief weg. Hinter sich hörte sie das dröhnende Lachen des Amerikaners und seinen Ruf: »Oh! A lovely f… girl –!«
Die Nacht war schlaflos und voller Qual. Sie spürte Schmerzen im Unterbauch und verging vor Angst darüber, daß die Anstrengungen der letzten Stunden dem Kinde etwas geschadet haben könnten. Ganz ruhig, wie erstarrt, lag sie auf dem Bett, drückte die flachen Hände gegen den Leib und redete sich und dem Kinde zu.
»Bleib gesund, kleiner Tinjascha …« dachte sie. »Dich bringe ich mit nach Torusk. Ein großer Jäger sollst du werden, der mutigste zwischen Taragaisk und Schigansk. Und wie dein Vater Tinja sollst du aussehen, groß und stark und blond. Für dich will ich leben, Tinjaschka. Ganz ruhig, ganz ruhig … ruh dich aus und schlafe … schlafe …«
Die Schmerzen ließen nach, als hätten ihre Hände die Gedanken auf das Kind in ihrem Leib übertragen. Aber Anuschka selbst schlief nicht. Sie starrte gegen die Ziegelmauer vor dem Fenster und sah den Schein des Mondes wandern. Erst gegen Morgen, als es schon grau vor dem Fenster wurde, schlief sie ein.
Bald werde ich wieder in Rußland sein, dachte sie als letztes. Bald werde ich ausruhen können. Um die halbe Welt bin ich gewandert, um ein Kind von Tinja zu bekommen. Hat es sich nicht gelohnt? Ich bin so glücklich … glaubt es mir, Brüderchen … auch wenn ich weine.
*
In dieser Nacht saßen auch Martin Abels und Dr. Petermann wach und riefen jede Stunde beim diensttuenden Kommissar im Präsidium an. Man konnte immer nur das gleiche sagen: keine Meldung aus Helmstedt. Mit den bisherigen Zügen ist sie nicht angekommen.
»Ich verstehe das nicht!« schrie Abels in höchster Aufregung. »Sie muß über die Grenze gegangen sein! Ihr Brief ist ganz klar: Ich gehe nach Torusk zurück!«
»Vielleicht ist sie nach Berlin geflogen?«
»Das glaube ich nicht. Sie hat Angst vor dem Fliegen.«
»In dieser Verzweiflung ist die Angst das geringste Hindernis.«
»Was soll sie in Berlin? Da ist die Mauer.«
»Vielleicht hofft sie, dort schneller zum Ziel zu kommen. Es gibt eine sowjetische Handelsmission in West-Berlin, ein Intourist-Büro, die Ehrenwache am Gefallenen-Ehrenmal …«
»Rufen wir sofort alle Flughäfen an, die sie benutzt haben könnte. Sie muß ja auf der Flugliste stehen.«
»Normalerweise ja.«
Gegen vier Uhr morgens wußte man, daß ein Fräulein Anuschka Turganow von Hannover nach Berlin geflogen war. Dr. Petermann rief das politische Kommissariat an. Die Grenzkontrolle wurde abgeblasen. Martin Abels jagte den Diener Alfons herum … Koffer packen, Flugkarte nach Berlin bestellen, Zimmerreservierung im Hilton, Gesprächsanmeldung mit dem politischen Kommissariat in Berlin.
»In Berlin!« rief Abels wie erleichtert. »Von dort hole ich sie zurück. Durch die Mauerdurchgänge kommt sie nicht … über die Mauer erst recht nicht.«
»Denk an die sowjetischen Stellen in West-Berlin«, sagte Dr. Petermann zweifelnd.
»Ich bin gegen elf Uhr in Berlin. Und ich werde Posten beziehen vor dem Checkpoint Charly. Wenn Anuschka in den Osten gebracht wird, dann nur durch diese Tür.« Er nahm den Koffer in Empfang, den Diener Alfons gepackt hatte. Vor der Tür parkte bereits der Wagen. In rasender Fahrt sollte es hinausgehen zum Sportflugplatz Bremens. Dort wartete eine Privatmaschine mit Pilot auf Abels. Sie gehörte Reeder Holgerson. Mit ihr flog er nach Hannover und von dort mit einer Linienmaschine nach Berlin. »Berlin ist näher«, sagte Abels und drückte Dr. Petermann die Hände. »Ich hatte mich schon darauf eingerichtet, wieder nach Torusk zu wandern und Anuschka ein zweites Mal zu holen.«
»Verdammt! Das hättest du getan!« sagte Petermann heiser.
»Ja. So sicher, wie in zwei Stunden die Sonne aufgeht. Es gibt für mich kein Leben ohne Anuschka.«
*
Während Abels über die Zone nach Berlin flog, erschienen in Bremen alle Zeitungen mit der großen Anzeige und der ausgesetzten 1.000-DM-Belohnung.
Die Wirkung war ungeheuerlich.
Frau Senatorin Pottbeck ließ ihren Hausarzt rufen, der eine große seelische Erregung feststellte; Freifrau von Plessneck trat einen plötzlichen Urlaub zu den Kanarischen
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