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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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begannen die ersten Wehen. Der Hausarzt verständigte sofort die Klinik. Inken Holgerson war in zwanzig Minuten zur Stelle.
    In den vergangenen Monaten hatte Inken sich gut erholt. Die Beinoperation war gelungen. Zwar mußte sie noch vorsichtig sein, für die kommenden zwei oder drei Jahre gab es für sie weder Skifahren noch Reiten, weder Wasserski noch Tennis, sie mußte behutsam gehen, öfter Pausen einlegen, damit das Bein nicht überanstrengt und überbelastet wurde – aber sie hinkte nicht mehr, sie konnte aufrecht gehen. Niemand kam mehr auf den Gedanken, daß dieses hübsche Mädchen einmal aus Verzweiflung über ein dauerndes Krüppeldasein aus dem Leben scheiden wollte.
    Auch die große Embolieoperation hatte keine Rückwirkungen hinterlassen bis auf den Bogenschnitt auf ihrem Brustkorb. In den wenigen Minuten der Melancholie, die sie noch immer hatte, stand sie dann nackt vor dem großen Spiegel und betrachtete die große lange Narbe. Wird mich jemals ein Mann heiraten, wenn er diese Verstümmelung meines Körpers sieht, dachte sie dann. Ja, Martin würde es … aber wo gibt es noch einen zweiten Martin Abels …?
    In der Klinik wurde Anuschka sofort in den Kreißsaal gerollt. Inken versuchte, Martin in München zu erreichen, aber er war noch mit den Herren aus der Schweiz und Italien unterwegs, wie das Hotel mitteilte. Inken nickte. Natürlich – Geschäfte großer Spannweite werden in Gesellschaft gefüllter Gläser getätigt, und wenn es hartnäckige Fälle sind, gehört auch ein Nachtlokal dazu.
    »Herr Abels soll sofort in der Klinik anrufen!« hinterließ Inken dem Hotelportier. »Er weiß dann schon, was das bedeutet.«
    Am 11. November wurde Martin Abels' Sohn geboren. Anuschka erlebte es nicht mit Bewußtsein; im kritischen Moment hatte man sie mit Lachgas betäubt. Obwohl sie nicht schrie, nicht ein einziges Mal. Sie biß die Zähne zusammen, so daß der Arzt dachte, sie brächen ab. »Schreien Sie doch, gnädige Frau … das befreit. Hier hört Sie keiner. Brüllen Sie los – verkrampfen Sie sich um Himmels willen nicht. Schämen Sie sich nicht – schreien Sie!« Kurz vor der Geburt des Kindes erkannte man, daß Anuschka am Ende ihrer Kräfte war. Ihre Augen waren starr, ihr Körper schweißüberströmt, die Finger zerrissen ein Taschentuch in kleine Fetzen, aber sie blieb stumm. Papuschka, dachte sie. Oh, Papa! Ein Tier schreit, hast du einmal gesagt. Ein Mensch kann alles ertragen. Aber das ist zuviel, Papa. Das geht nicht mehr. Ich muß schreien … o Mamuschka, hilf mir … hilf … du hast mich ja auch geboren. Hast du geschrien, Mama? Warst du so tapfer wie ich? Aber ich kann nicht mehr … ich – kann – nicht – mehr – es ist zuviel …
    Da gab man ihr Lachgas, sie dämmerte in eine schwebende Leichtigkeit hinein und spürte nicht mehr, wie neues Leben aus ihr erwuchs, hörte nicht den ersten Schrei des Kindes, sah nicht den kleinen, faltigen, roten Körper, den die Schwester hochhob, zur Waage trug und dann wickelte.
    Erst in ihrem Zimmer kehrte ihr Bewußtsein zurück, sah sie das lächelnde Gesicht Inkens neben sich.
    »Ein Junge«, sagte Inken Holgerson und küßte Anuschka auf die Augen. »Ein Prachtkerl, viertausenddreihundert Gramm schwer. Ihr seid ein gesunder Schlag, ihr Menschen aus Sibirien.«
    »Ein Junge.« Anuschka seufzte glücklich. »Weiß es Tinja schon?«
    »Nein. Aber er landet in zehn Minuten – der Pilot hat per Sprechfunk durchgegeben, daß sich der Chef wie irr benimmt. Er bringt einen halben Spielzeugladen mit.«
    »Guter, lieber Tinja …« Anuschkas Augen fielen vor Schwäche zu. »Es ist so schön, Inken, ein Kind zu haben –«
    Martin Abels überrannte alles, was sich ihm in den Weg stellte, als er wie ein Wirbelsturm in die Klinik einfiel. Pfortenschwester, Stationsschwester, Stationsarzt sprangen ihm aus dem Weg wie einer niederdonnernden Lawine. Hinter ihm rannten mit gleicher Unaufhaltsamkeit der Pilot, ein Chauffeur und Diener Alfons, in den Armen riesige Blumensträuße und völlig sinnlose Spielzeuge in großen Kartons.
    Erst vor dem Zimmer kam Abels zum Halten, drückte vorsichtig die Klinke herab und sah seine drei Begleiter strafend an, weil sie keuchend über den Flur herangehetzt kamen.
    »Ruhe bitte!« sagte Abels halblaut und legte den Zeigefinger vor die Lippen. »Wecken Sie meinen Sohn nicht auf!«
    Dann trat er ein.
    Anuschka war allein. Inken hatte sich in einen Nebenraum zurückgezogen – diese Minute gehörte allein Anuschka

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