Ein Mädchen aus Torusk
übernachteten also in einer Herberge, die neben dem Bahnhof stand. Der Wirt lebte sehr gut von den Wartenden, nahm für eine Übernachtung 20 Kopeken und stellte dafür einen Sack mit Heu zur Verfügung. Auf diesen warf man sich, sagte sich, daß es ja doch nur eine kurze Nacht sei, brauchte eine Stunde, um sich an den Mief zu gewöhnen, und merkte dann, daß die Mischung von menschlicher Ausdünstung, Schnaps, Knoblauch, Schweißdrüsen, nasser Kleidung, stinkenden Pelzen und in Spankörben flatternden Hühnern und Gänsen, die zum Gepäck der Reisenden gehörten, der beste Schutz gegen die Kälte war. Erfroren ist schon mancher, aber noch nie erstunken.
Am frühen Morgen – es war erstaunlich, daß überhaupt bei den vereisten Schienen und Weichen ein Zug abfuhr – kam Unruhe in die große Stube. Die Reisenden erhoben sich, irgendwo aß jemand einen gut gereiften Ziegenkäse, dessen Duft noch im Zimmer fehlte, und auch Martin Abels wurde durch die allgemeine Unruhe, das Herumstoßen, das Fluchen und Schimpfen geweckt.
Die Heusäcke neben ihm waren leer. Jurij und Victor waren schon gegangen. In der Nacht noch waren sie aufgebrochen, und es war müßig, zu fragen, wohin. Mit ihnen aber fehlten auch die zweitausend Rubel, die Martin Abels in einem Lederbeutel auf der Brust getragen hatte. Dafür lagen russische Kleider neben ihm. Filzstiefel, Wattehosen, eine Steppjacke, ein alter Pullover, der nach Ochsendung stank, eine pelzgefütterte Mütze mit Ohrenklappen, dicke Fausthandschuhe aus Hundefell. Und eine Flasche Wodka lag dabei, gewickelt in den Pullover. Wenn zweitausend Rubel auch äußerst teuer waren für diese Kleidung, man muß ehrlich sein: Die Flasche Wodka zeugte von tiefer Freundschaft, denn sie hatten es nicht nötig gehabt, wo doch Wodka besser schmeckt als Engelstränen, wie Victor zu sagen pflegte.
Martin Abels verzichtete darauf, Lärm zu schlagen. Was sollte es auch? Man würde nur aufmerksam auf ihn, würde ihn mitnehmen zur Wache, ihn verhören und fragen: Zweitausend Rubelchen? Oha! Du hast zweitausend Rubelchen gehabt, die man dir gestohlen hat, Genosse? Irrst du dich auch nicht? Waren es etwa nur zwanzig Rubelchen und du hast ein paar Nullen drangehängt? Wer hat denn hier zweitausend Rubel, he? Davon träumt man in Selenduma, aber man hat sie nicht! Zeig mal deinen Ausweis! Wer bist du überhaupt? Zweitausend Rubelchen will der Kerl gehabt haben, und hat keine Papiere! Das ist interessant, Genossen! Ein dicker Fisch hängt an der Angel. Und ein dummer Fisch! Wer schreit wegen zweitausend Rubel, wenn er keinen Ausweis hat!
Martin Abels war nicht so dumm. Er warf seinen Fellsack über den Rücken, nachdem er sich umgezogen hatte, was unter den Augen alter und junger Bäuerinnen geschah, die nicht einmal hinsahen, denn ein Mann in Unterhosen ist etwas, was nicht einen Blick lohnt, auch nicht, wenn er groß und kräftig ist, denn vom Anschauen wird ein Hungriger nicht satt. Nach dieser Umkleidung reihte er sich in die Schlange der Reisenden ein, die sich langsam aus der Herberge zum Bahnsteig hinausschob. Dort wartete ein alter, mit Eis überzogener Zug, dampfend und zischend.
Dann saß er in einem Abteil, eingekeilt zwischen anderen Bauern, die in Körben und Kisten ihre Hühner auf den Knien schaukelten oder begannen, aus Leinentaschen Brot und Speck auszupacken und zu essen. Ihm gegenüber knöpfte eine junge, breitknochige Bäuerin ihre Wollbluse auf und legte ihr in Fellen eingewickeltes Kind an die Brust. Dabei rauchte sie, lachte Abels an und drückte ihre Stiefel gegen Martins Schienbeine, weil sie auf diese Weise das Kind besser stützen konnte.
Nach lautem Geschrei auf dem Bahnsteig – ein Bauer wollte zusammen mit einer Ziege ein Abteil besteigen, was bei aller Großherzigkeit der Bahnbeamten an den Bestimmungen scheiterte, deren Sinn wiederum der Bauer nicht verstand, denn, so brüllte er, seine Ziege sei ihm so wertvoll wie ein Mensch, ja, noch wertvoller, denn ein Mensch gäbe keine Milch, keine Butter und keinen Käse, sondern ein Mensch könne nur scheißen –, nach dieser Auseinandersetzung, deren Sieger, wie immer, das Gesetz war, pfiff es ein paarmal, es ruckte, die Wagen stießen an den Puffern zusammen, das Kind der jungen Bäuerin wurde von der Brust gerissen und schrie, und ein Stück Speck rollte Abels über die Backe … und dann fuhr der Zug wirklich ab. Genossen, welch ein Glück, welche Fröhlichkeit, welch ein Feiertag! Er fuhr. Er dampfte nach Norden. Er
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