Ein Mädchen aus Torusk
besiegte Eis und Schnee. Er quälte sich nach Tschita.
Und da soll man nicht die Technik besingen? Man wäre wirklich undankbar, wenn man solch ein hartes Herz hätte, das nicht anzuerkennen.
Der Zug fuhr!
Er fuhr sogar noch eine Stunde später, was niemand gehofft hatte. Er zischte durch erstarrte Wälder und eisbestrichene Felsen. Er heulte vorbei an einsamen Blockstationen, die man nur daran erkannte, daß aus einem Schneehügel dunkler Rauch stieg.
Tschita, dachte Martin Abels. Tschita ist ein großer Umschlagplatz. Von dort werde ich weiter können.
Von zweitausend Kilometern hatte er knapp vierhundert hinter sich.
*
Eine Viertelstunde später wurde er jäh aus seinen Gedanken gerissen. Auf dem Gang, wenige Abteile weiter, übertönte eine dröhnende Baßstimme das Palaver der Reisenden und die Geräusche des Zuges: »Kontrolle!« Martin Abels rührte sich nicht. Fieberhaft überlegte er einen Ausweg. Da hörte er eine zweite Stimme, heller, ungeduldig: »Kontrolle! Los, beeilt euch, ihr Landstreicher!«
Abels begann zu schwitzen. Einen einzigen Milizsoldaten hätte er vielleicht ablenken können. Aber zwei, die gegenseitig aufeinander aufpaßten …
Instinktiv griff er nach seinem Fellsack. Abspringen, durchzuckte es ihn. Es gibt keinen anderen Ausweg. Er sah aus dem Fenster. Der Zug keuchte langsam eine weite Kurve bergan. Es mußte gelingen. Der tiefe Schnee würde den Aufprall beim Sprung mildern.
Die anderen Reisenden in Abels' Abteil hatten die Stimmen der Milizsoldaten bisher nicht zur Kenntnis genommen. Keiner kramte nach seinem Ausweis, keiner zeigte Unruhe oder ein schlechtes Gewissen. Gelassen schwatzten die Bauern weiter. Ein älterer Mann öffnete einen Topf Gurken und bot reihum an.
Martin spähte auf den Gang hinaus. Er war vollgestopft mit Menschen, die keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten. Direkt vor der Abteiltür hockten zwei junge Burschen auf ihrem Gepäck, spielten Karten und tranken Wodka aus einer Flasche.
Die Milizsoldaten waren ein Abteil näher gerückt. Wieder die verdammte Aufforderung: »Kontrolle!« Martin faßte sich unwillkürlich an den Hals unter dem Kragen seiner Steppjacke. Die Reise war zu Ende. Er konnte nicht durch den überfüllten Gang, konnte keine Tür erreichen.
In diesem Moment stand der alte Bauer mit dem Gurkentopf plötzlich auf und verdeckte mit dem Rücken die Abteiltür. »Genossen«, sagte er, »ich habe einen Koffer mit einem halben Schwein für meine Tochter und ihre fünf Kinderchen. Die Arme hat ihren Mann verloren. Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich den Koffer aus dem Fenster hänge?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er zwei Schritte zum Fenster, riß es auf, nahm seinen Koffer und hängte ihn mit wenigen geschickten Handgriffen an die Außenwand des Wagens. Zwei Haken und ein Stück Draht genügten. Der Mann mußte den Trick schon öfter angewandt haben.
Er schloß das Fenster, drehte sich um, zog eine kleine Flasche aus der Tasche und bot Martin von dem Wodka an. »Sie erwischen immer die Falschen bei der Kontrolle«, sagte er. »Unsereiner ist doch kein Spekulant. Sollen sie doch mal im Abteil der Eisenbahner nachsehen. Säckeweise steht dort das Zeug. Es sind Halunken!«
Martin nahm einen kräftigen Schluck. Der Schnaps fuhr wie Feuer durch seine Kehle. Aber er wärmte, er gab neue Hoffnung.
Im Abteil nebenan entstand ein scharfer Wortwechsel. »Hier ist der Ausweis, daß ich im Auftrag der Maschinenfabrik Uralsk reise!« schrie jemand mit erregter Fistelstimme. »Der Inhalt meiner Koffer darf nicht kontrolliert werden.«
»Dein Papierchen interessiert mich einen Scheißdreck, Genosse«, erwiderte der Milizsoldat mit dem Baß. »Geh aus dem Weg, du Bürowanze.«
Die Unterhaltung in Martins Abteil verstummte. Alle spitzten die Ohren. Die Kartenspieler auf dem Gang waren aufgestanden und spähten neugierig in das Nebenabteil. Hinter ihnen drängten sich andere Bauern. Martin bekam ein ungutes Gefühl.
Noch einmal hörte er die Fistelstimme, diesmal drohend und beschwörend: »Ich … ich werde Sie anzeigen!« Aber ein klatschender Schlag brachte den Mann zum Verstummen. Koffer sprangen auf, Flaschen polterten zu Boden. Dann folgte ein Geräusch, als ob ein Sack Erbsen ausgeschüttet würde.
Der Menschenhaufen auf dem Gang drückte sich mit Gewalt in das Nebenabteil. Ein unbeschreiblicher Tumult entstand. Einer der vordersten Männer kämpfte sich schon wieder aus dem Gedränge zurück, um seine Beute in Sicherheit zu
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