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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Immer modern im Denken, das mußte man ihm lassen.
    Dann hörte man nichts mehr von dem großen Projekt. Die Landvermesser reisten wieder ab. Sie hatten kreuz und quer das Land fotografiert und auf einer Karte Striche, Kreise und Winkel gezeichnet. Sie hatten die Felsen gemessen, und Smulkow, das schnelle Hirnchen, schlug vor, wenn die Felsen im Wege seien, könne man sie ja wegsprengen. Er habe gelesen, daß man da schon ganz andere Dinge gemacht habe. Ganze Gebirge habe man durchbohrt. Was ist da ein Berglein, das neben Nagornoje steht?
    Auf jeden Fall – die Hoffnung blieb im Dorf. Wenn man nichts hört, ist das auch schon ein Erfolg. Andernfalls hätte man eine Ablehnung gehört. So meinte Smulkow, und man glaubte es ihm. Ab und zu kamen Besucher aus dem Westen und Süden, die berichteten, daß man fleißig an der neuen Bahn baue. Riesige Raupen walzten die Fundamente für die Schienen, an Schwerpunkten seien ganze Städte neu erstanden. Es sei gigantisch, was man da arbeite. Ein Hoch auf die Arbeitsbrigaden.
    »Es muß alles seine Zeit haben!« sagte Smulkow, auch wenn er nicht mehr daran glaubte. Was die Dorfbewohner noch nicht wußten, hatte er längst erfahren: Die BAM wurde unterhalb Nagornoje entlanggeführt. Der Bahnhof sollte Tygdinsk werden, die Endstation der bisherigen Bahn von Ulan-Ude nach Nordosten. Nur wenn er allein mit seiner Frau Axinja war, legte Smulkow den dicken Kopf in beide Hände, starrte auf die Karte und maß immer wieder die Entfernungen.
    »Nur hundert Werst liegen dazwischen«, stöhnte er. »Lumpige hundert Werst. Man hätte auch diesen Knick nach Norden machen können. Waren wir nicht gastfreundlich zu den Ingenieuren, was? Haben sie nicht sieben Kinder hiergelassen? Und dann solch eine Behandlung! Nagornoje wird jetzt immer am Hintern der großen Welt bleiben. Selbst die Füchse wandern aus, so abseits liegen wir. Man darf es den guten Genossen bloß nicht sagen. Sie sollen weiter hoffen. O ihr Heiligen, sie kennen sonst keine Grenzen in ihrer Wut.«
    Daß Smulkow die Heiligen anrief, obwohl er auf der Dorfsowjetschule in Tschita gewesen war und als überzeugter Kommunist heimkehrte und in allen Hütten Stalinbilder verteilte, die später gegen die von Chruschtschow ausgewechselt werden mußten, bewies seine tiefe, ehrliche Erschütterung. Und gerade bei diesem Smulkow landete Amalja Semperowa. Ein Bauer aus den Bergen, ein Vetter Smulkows, brachte sie mit einem Ochsenkarren zu ihm, bevor der große Schneefall einsetzte.
    »Das dauert eine Zeit«, sagte Smulkow, als der erste Sturm losheulte und Axinja die Fensterritzen zuklebte. »Du wirst deiner Tante nur ein Blümchen bringen können, wenn es wieder taut. Sie wird tot sein.«
    »Arme Tante«, sagte Amalja Semperowa und weinte. Auch das hatte sie gelernt, und weil es so echt war, ging Smulkow das Herz auf wie ein warmer Ziegenkäse. Er bat sie, in seinem Hause zu bleiben und den Winter hier abzuwarten.
    Betty Cormick – wir wollen sie von jetzt an nur noch Amalja Semperowa nennen, denn mit ihrem Absprung gab es keine Betty mehr – bekam ein Zimmerchen neben dem Stall; es war ein warmes Fleckchen, denn hier lagerte Heu für die Ochsen und Mais für die Hühner, die meistens auf der Leiter vor ihrem Bett saßen und ihre Eier in eine alte Wiege legten.
    Für Amalja war dies der richtige Ort. Nachts, wenn nebenan Smulkow und Axinja auf dem Lehmofen lagen und schnarchten, baute sie ihren Kurzwellensender auf und nahm Verbindung mit einem unbekannten Kontaktmann in Jakutsk auf. Die ersten drei Nächte suchte sie vergeblich auf der angegebenen Frequenz, es meldete sich niemand, aber dann tönte das dünne, helle Klimpern von Morsezeichen aus dem kleinen Kopfhörer, den sie sich in die Ohrmuschel klemmte.
    »QI an PII … QI an PII …«
    Amalja meldete sich. Dann tickte es ununterbrochen, und sie las erstaunt, was man ihr durchgab.
    »Warum sind Sie noch nicht weiter? Wir erwarteten Sie schon! Wo sind Sie? Geben Sie genaue Position. Sie sind in der Nähe von Alakowa abgesprungen. Gehen Sie nach Tygdinsk. Von dort führt eine Straße nach Tora. In Tora warten Sie. Man holt Sie dort ab. Ende.«
    Amalja gab ihre Position durch. Und sie morste wütend:
    »Wenn Sie ohne Flügel fliegen können, machen Sie es vor. Ich bin hundert Werst von Tygdinsk entfernt. Aus der Ferne meckern ist leicht. Sie hätten den Winter aufhalten sollen, dann wäre ich schon da! Ende.«
    Und die Antwort: »Immer Ruhe, Mädchen! Was haben Sie gelernt? Nicht

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