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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bringen: eine Handvoll Kugelschreiber und drei nagelneue Brieftaschen.
    Als die anderen diesen Erfolg sahen, waren sie nicht mehr zu halten. Mit einem dumpfen Stöhnen überschwemmte die Menge das Abteil, ein Kampf aller gegen alle entbrannte. Schläge, Schreie, prasselnde Glasscherben, splitterndes Holz. Die Milizsoldaten waren hoffnungslos eingekeilt und in Sekunden außer Gefecht gesetzt.
    Fasziniert sah Martin dem verbissenen Ringen zu. Ein pockennarbiger junger Kerl mit einer heftig blutenden Platzwunde an der Stirn bahnte sich brutal einen Weg aus dem Getümmel und schwenkte triumphierend seine Beute: einen Karton Zigaretten und zwei Pelzmützen.
    Nach zehn Minuten war die Schlacht zu Ende. Martin Abels warf einen Blick in das Nebenabteil. Es sah aus, als habe eine Bombe eingeschlagen. Keine Scheibe mehr. Die Holzleisten aus den Wänden gerissen. Der Boden übersät mit zertrampelten Kugelschreibern, Schokolade- und Zigarettenpackungen, ausgelaufenen Schnapsflaschen …
    Auf der linken Holzbank hockten schwer atmend die beiden Milizsoldaten, zwischen ihnen der Vertreter der Uralsk-Werke. Er zuckte resigniert mit den Schultern und holte Zigaretten aus der Tasche. Als ob nichts gewesen wäre, bot er sie den Milizsoldaten an. Die beiden nahmen sie und begannen zu rauchen. Offenbar waren sie entschlossen, den Zwischenfall zu vergessen … und mit ihm ihren weiteren Kontrollgang durch den Zug.
    Als Martin in sein Abteil zurückkam, hatte der alte Bauer seinen Koffer längst wieder hereingeholt. Er hielt ihn liebevoll auf den Knien und strahlte. »Ein Fest war's, nicht wahr, Brüderchen?« meinte er. »So ist eben unser Volk. Gegen die Langeweile in Sibirien muß ab und zu was getan werden. Du bist sicher nicht von hier, Freundchen. Wo kommst du denn her?«
    »Aus Charkow«, log Martin.
    »Das ist weit«, sinnierte der Alte. »Dort sind die Menschen wohl zahmer, was? Wir hier in Sibirien sind eben freie Menschen, uns kann keiner ungestraft schikanieren.«
    Ein paar Abteile weiter erklang plötzlich eine Harmonika. Jubilierend wie eine Lerche sang ein Tenor die Strophe. Samtweich fielen die Bässe beim Refrain ein. Es war ein altes Lied der sibirischen Sträflinge. Aus unendlicher Schwermut schwangen die Seelen sich empor.
    Was für ein Volk, dachte Martin Abels. Wie nah … und doch wie fremd.
    *
    Der Einbruch des Winters, der dichte Schneefall, der heulende Wind, der aus der Taiga blies und die Welt in tosende Luft verwandelte, und vor allem der Zusammenbruch aller Transportmittel vor der Allmacht des Väterchens Frost setzten dem Wanderdrang der kleinen, immer freundlichen und um ihre Tante so besorgten Amalja Semperowa ein jähes Ende.
    Amalja Semperowa, die vergessen hatte, daß sie einmal Betty Cormick hieß und in der Prärie aufgewachsen war, zwischen gummikauenden Cowboys und in Staub gehüllten, brüllenden Rinderherden, war bis zu dem Dorf Nagornoje gekommen. Es lag im sumpfigen Quellgebiet des Flusses Timton, hatte keinerlei Bedeutung und existierte seit einigen Jahren allein durch den Glauben seiner Menschen an die Zukunft.
    Das war so gekommen. Plötzlich erschienen in Nagornoje zwei Lastwagen. Zelte wurden ausgeladen, zusammenklappbare Hütten und Instrumente. Zwanzig Männer, gut angezogen, mit städtischem Benehmen, kamen in die Häuser, fraßen Speckkuchen und Hammelkeulen und erzählten, daß man eine Eisenbahn plane. Sie seien hier, um das Land zu vermessen und um festzustellen, ob sich Nagornoje als Bahnhof eigne. Sie hatten auch schon einen Namen für diese Eisenbahn. Baikal-Amur-Bahn sollte sie heißen. Nach der modernen Art, zu schreiben und zu denken, abgekürzt einfach: BAM.
    Genossen, war das eine Freude in Nagornoje! Eine Eisenbahn! Ein Bahnhof! Jubel und Trubel! Die großen Züge mit den reichen Natschalniks würden hier halten, die sicherlich ein Teechen trinken oder ein bißchen essen wollten. Die Samoware würden gluckern und die Fischbrater im Öldunst schwimmen. Und im Winter konnte man immer sagen: Genossen, die Strecke ist vereist, die Weichen klemmen, ihr könnt nicht weiter. Dann brauchte man Hotels und Wodkastuben, und auch für die Unterhaltung der hohen Gäste mußte man sorgen. Ippolit Pawlowitsch Smulkow hatte da schon einen feinen Plan. »Wir machen ein schönes Bordell auf«, sagte er und schnalzte mit der Zunge. »Die großen Herren aus Moskau und Swerdlowsk sollen sich wohl fühlen in Nagornoje!« Na, wer sagt's? War er nicht ein kluger Kopf, der Dorfvorsteher Smulkow?

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