Ein Mädchen aus Torusk
Bauerntöchter, oje, Brüderchen, das war ein Kapitel für sich. Das Essen war gut, aber sagt selbst, wo soll es hinführen, wenn man Tag und Nacht die Felder beackern muß?
Als Victor 1945 befreit wurde, war das gar nicht nach seinem Sinn. Aber er mußte zurück zu Mütterchen Rußland, so weh es ihm tat, und nun saß er hier, wärmte sich an einem offenen Feuer, mußte sich sein Brot hart mit der Jagd verdienen, schabte Felle und mußte bei Marfa, der dicken Matrone, um gutes Wetter bitten und ein paar Rubelchen hinlegen, wenn er das haben wollte, was er im rheinischen Vorgebirge kaum hatte bewältigen können. Es war schon ein verfluchtes Leben! Wen wundert's, daß des Russen Gebetbuch die Wodkaflasche ist?
»Weg aus dem Lager?« fragte Jurij und grinste wieder.
»Kennst du Vorgebirge?« sagte Victor. Und bei Gott, er sprach es sogar deutsch aus. So sehr verwurzelt war es in seinem Herzen.
»Nein. Ich komme aus Bremen. Das ist eine große Stadt an der Küste. Ich will nach Torusk. An der Lena. Dort suche ich ein Mädchen. Anuschka heißt es.«
»Ein Mädchen?« Victor betrachtete den Deutschen mit sichtlichem Mitleid. Er hat ein kleines Gehirn, der Arme, las man in seinen Augen. Er kommt nach Rußland und sucht ein Mädchen, und in Deutschland laufen sie herum wie die Engelchen. Ein armer Mensch, wahrlich. Und er sieht gar nicht so blöde aus. »Du kommst hierher und willst Anuschka haben? Warum?«
»Ich liebe sie, Victor.«
»Und wenn sie dich totschießen?«
»Und sie werden dich totschießen!« sagte Jurij. »Wir bringen dich zur mongolischen Grenze zurück.«
»Bringt mich lieber zu einem Güterbahnhof. Ich werde schon nach Norden kommen.«
Die beiden Jäger schwiegen. Ihre bärtigen, schwitzenden, gegerbten Gesichter verrieten nicht, was sie dachten. Aber das war nicht schwer zu erraten. Wir bringen ihn nach Selenduma, dachten sie. Von dort soll er sehen, wie er weiterkommt, das dumme Seelchen. Sucht ein Mädchen an der Lena, hat man so etwas Dummes schon einmal gehört? Die Welt ist voller Weiber, aber nein, eine Anuschka muß es sein, an der Lena, so ein wildes, nach Rentierfett riechendes Frauenzimmer. Er ist ein so lieber Mensch, dieser Deutsche, aber was soll man anderes tun, als ihn bedauern, daß er so blöd ist?
»Andere Kleider muß er haben!« sagte Victor.
»Ja, das stimmt. Die sind mongolisch. Du mußt russisch aussehen.« Jurij rollte das Bärenfell zusammen und verschnürte es mit Lederriemen. Auch die Schnauze umwickelte er, steckte quer durch die Zähne einen dicken, runden Stock und warf das schwere Fell über die breiten Schultern. Ein kräftiger Kerl war er, man sah es jetzt. Victor nahm die beiden Fellsäcke. Mit einem langen Baumstamm, der im Feuer zischte, weil er noch gefroren war, riß er den glühenden Holzstapel auseinander und zerstörte die Flammen.
»Hast du Geld?« fragte Jurij.
»Ja, zweitausend Rubel.«
»Das ist gut.«
Man sprach nicht mehr darüber.
Es dauerte einen ganzen Tag, bis sie Selenduma erreichten, ein erbärmliches Nest mit einem kleinen Bahnhof. Jurij erkundete die Lage. Die Rotarmisten beobachteten nur den Kartenverkauf und belagerten die Güterplätze. Wer einmal im Zug saß, schien sicher zu sein. Jurij sprach auch mit Reisenden, die aus dem Norden kamen. Da war alles still. Keine Kontrollen, keine Aufregung. Aber ein Winter wird das, sagten sie alle. Brüderchen, die Seele friert einem fest an den Rippen. Der Baikalsee soll schon zu sein, ein Meter dickes Eis. Und weiter oben, an der Lena und zum sibirischen Bergland hin, da krachen schon die vereisten Bäume auseinander, und Rudel von Wölfen kommen bis an die Siedlungen. Jetzt schon! Wie soll das erst im Dezember und Januar werden? Da werden die Füchse ihre eigenen Schwänze fressen.
Jurij kaufte eine Fahrkarte nach Tschita. Weiter wäre verdächtig gewesen. Auch jetzt schon fragte der Militärposten am Schalter: »Was willst du in Tschita, Genosse?«
»Mir die Hose flicken lassen, Brüderchen!« antwortete Jurij. »Sie platzt mir immer, wenn ich dumme Fragen höre.«
Das war eine gute Antwort. Der Posten lachte, sah in das struppige, wilde Gesicht Jurijs und zwinkerte mit den Augen.
»Zerreiß das Täubchen nicht«, sagte er fröhlich. Dann beugte er sich zum Schalter vor und nickte. »Für den Genossen einmal Tschita. Geht in Ordnung.«
Der Zug fuhr erst am nächsten Morgen. Selenduma ist nicht Irkutsk, und auch dort muß man warten können. Jurij, Victor und Martin Abels
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