Ein Mädchen aus Torusk
Herzspezialisten. Aus Ägypten kamen lakonische Karten von Inken: Mir geht es gut. Hier ist es schön. Die Pyramiden sind groß. Der Staudamm ist halbvoll … Karten, die der alte Holgerson fluchend zerriß. »Das Kind wird gemütskrank«, sagte er. »Wenn Inka durchdreht, drehe ich diesem Abels den Hals um.« Das war ehrlich gemeint. Jeder wußte es – und wartete auf das Genickumdrehen.
»Was soll los mit mir sein?« fragte Martin Abels zurück.
»Die Sache mit der kleinen Inken Holgerson …«
»Das war keine Sache«, sagte Abels hart.
»Alle warteten auf eure Verlobung. Wir dachten …«
»Man soll nicht zuviel denken, vor allem nicht über Dinge nachdenken, die sich der Kritik entziehen.« Abels umfaßte seinen grünen, reich geschliffenen Römer, als müsse er den Wein mit der Wärme seiner Hände auftauen. »Ihr wißt es doch genau – warum fragt ihr dann so dumm?«
»Noch immer Anuschka?« Fernholz, der Metzgermeister, räusperte sich. »Martin, Junge, wir sind doch alte Kumpel. Wir haben im Straflager von Lubenka abwechselnd Regenwürmer gegessen … mal du einen, mal ich einen, und wir sind nicht verhungert wie die anderen. Mit uns kannst du doch sprechen wie mit 'nem lahmen Gaul. Und wir mit dir, nehmen wir an.«
»Ja.«
»Also dann. Was soll der Blödsinn mit der Anuschka? Inken Holgerson ist bildhübsch, sie hat einige Millionen an den Füßen, sie ist total verknallt in dich … verdammt, das sage ich, wo ich immer geglaubt habe, du würdest mal meine Jüngste, die Marie, heiraten. Schwamm drüber, ich weiß, das ist 'ne Utopie. Aber die Inken, das ist deine Kragenweite! Und die läßt du abfahren wie 'ne Nutte. Ich verstehe das nicht.«
»Und gerade ihr solltet mich verstehen.« Martin Abels trank einen kleinen Schluck von dem Wein. Seine Augen blickten traurig. Petermann, der Jurist, trat unter dem Tisch Fernholz gegen das Schienbein und nickte zu Abels hin. Der Metzger schwieg. Sie kannten das, sie konnten in diesem Blick ihres Freundes lesen … wenn er stumm in die Weite starrte, war er in Torusk. Dann sah er die Wälder, die bis zur Lena reichten, dann saß er in der Blockhütte Pawel Andrejewitsch Turganows und trank den dampfenden grünen Tee aus flachen Terrakottaschalen. Und hinter ihm stand ein junges Mädchen mit langen schwarzen Haaren, und in ihren leicht geschlitzten, mandelförmigen, kohledunklen Augen leuchtete das Glück, für das es keine Worte mehr gibt.
»Himmel, Arsch und Wolkenbruch!« unterbrach Fernholz die feierliche Stille am Stammtisch. Martin Abels schrak auf und wischte sich über die Augen. Torusk versank – im Zigarren- und Zigarettenqualm sah er die ›Eule‹ wieder. »So geht das nicht weiter! Wir sind alte Kameraden, und wenn einer von uns anfängt zu spinnen, dann treten wir ihm in den Hintern. Das ist ja nicht mehr zum Ansehen. Was weißt du von deiner Anuschka? Nichts. Seit acht Jahren schweigt Sibirien für dich. Du weißt nicht, ob sie noch lebt, ob sie nicht schon längst mit einem jakutischen Fellhändler verheiratet ist, fünf Kinder hat und aussieht wie ein morsches Faß. Mensch, du jagst einem Phantom nach.«
»Vielleicht.«
»Und versaust dir damit alle Chancen der Gegenwart. Deine Anuschka kann dieser Inken Holgerson nicht den Pißpott reichen.«
»Das darfst du nicht sagen, Heinz.« Abels schüttelte den Kopf. Er war weder beleidigt, noch fühlte er sich angegriffen. Was hier in diesem Kreise besprochen wurde, stand jenseits aller Leidenschaften. Man konnte sich einfach alles sagen, weil es die Wahrheit war, wie sie jeder aus seiner Sicht dachte. »Anuschka ist nicht zu beschreiben. Ihr kennt sie ja nicht.«
»Seit acht Jahren hören wir ihre Ballade.« Ludwig Petermann steckte sich eine Zigarre an. »Wirklich, Martin, du solltest dich von der Vergangenheit lösen. Es gibt keine Anuschka mehr für dich.«
»Und warum?«
»Sie ist, wenn sie noch lebt, in Torusk. Sie muß jetzt, wenn ich richtig rechne, fünfundzwanzig Jahre alt sein …«
»Ein Mütterchen mit einer Kinderschar«, warf Fernholz ein.
»Es ist nicht zu erwarten, daß sie noch gehofft hat, dich wiederzusehen, wie sie dich ja auch nie wiedersehen wird. Mag eure Liebe noch so groß sein: Die Zeit, die Politik, die Entfernung ist über euch hinweggerollt. Martin, wach endlich auf!«
»Ich bin aufgewacht.« Martin Abels lehnte sich zurück. Etwas Endgültiges beherrschte sein Gesicht. »Wer sagt, daß ich sie nicht wiedersehen werde? Ich werde sofort nach Rußland fahren und
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