Ein Mädchen aus Torusk
Panzerersatzteilkompanie durch das Reparieren der Panzer mitgeholfen habe, einen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion zu ermöglichen. Todesurteil, Begnadigung zu lebenslänglicher Zwangsarbeit – der Vorhang war vor das Leben des Martin Abels gezogen worden, ein Vorhang von der Dicke einiger tausend Kilometer. Nur schreiben durfte er, jeden Monat eine Karte. Ob sie in Bremen ankam, wußte er nicht. Er erhielt nie eine Antwort, und der Lagerkommandant benutzte dies zu der hämischen Bemerkung: »Da seht ihr es: In eurer Heimat seid ihr abgeschrieben! Ihr solltet glücklich sein, daß das Sowjetvolk euch Ungeziefer ernährt!«
In den Wäldern von Torusk, das ahnte Martin Abels, würde die Endstation seines Lebens sein. Wer einmal hier war, kam nicht mehr zurück. Die Welt war hier wie am ersten Schöpfungstag, wild, feindlich, ungeordnet, erbarmungslos. Die Menschen, die hier lebten, Nachkommen ehemaliger Sträflinge aus dem Zarenreich, die in Sibirien geblieben waren, Jakuten und Usbeken, Mischlinge aus der Mongolei und Jäger aus Tungusien, empfanden nicht, wie weit die Welt sich noch nach Westen dehnte und welche Wunder es außerhalb Mittelsibiriens gab. Es kümmerte sie auch nicht. Sie sahen sich die Bilder in der Komsomolskaja Prawda an, in der Illustrierten ›Die Sowjetunion‹ und der Frauenzeitschrift ›Die Sowjetfrau‹. Sie lasen von Modeschauen in Moskau und Kiew, bewunderten die riesigen Mähdrescher auf den ukrainischen Feldern, falteten dann die Zeitungen zusammen und machten mit ihnen ein schönes Feuerchen im gemauerten Ofen. Sie waren zufrieden. Sie hatten ihren unendlichen Wald, sie liebten die unübersehbare Lena, sie jagten und fischten, kauften in Taragaisk bei Victor Pawlowitsch Unjeski alles, was man in einer Hütte brauchte, badeten heiß in den Holztrögen der Banja, hielten ihre Versammlungen in der Stolowaja ab und besuchten fleißig, aber knurrend die Fortbildungskurse der Partei, in denen sie schreiben und lesen lernten. Und rechnen – mit den magischen Kugeln der russischen Rechenmaschine.
Vor allem die Jugend, unter ihr auch Anuschka, lernte viel. Dreimal in der Woche fuhr man nach Taragaisk in die Schule, und die Alten waren stolz auf ihre Kinder, die sich abends hinsetzten und ihnen vorlasen, was Genosse Stalin weit im Westen, im fernen Moskau gesagt hatte und was der Genosse Chruschtschow wollte und daß man Molotow in die äußere Mongolei verbannte. So kam die große Welt doch nach Torusk – aber es war nur Papier. Papier, das aus dem Holz gewonnen wurde, das man aus ihrem Walde schlug.
An einem Sommerabend im Jahre 1954 begegneten sich Martin Abels und Anuschka Turganow zum erstenmal.
Es hatte sich alles anders eingespielt. Abels wurde, als erfahrener Plenny, zum Vorarbeiter ernannt und führte eine Kolonne Waldarbeiter. Sie bestand nicht nur aus Deutschen, sondern auch aus sowjetischen Strafgefangenen, aus Saboteuren, Bourgeoisen und ideologisch Kriminellen. Sogar ein Professor war darunter. Professor Wladimir Alexandrowitsch Bobobkin, Hochschullehrer aus Charkow. Er hatte die Ansicht geäußert, daß die Agrarpolitik Moskaus fehlerhaft sei. Man soll solche Äußerungen nicht tun, es sei denn, man ist ein dummer Mensch. Professor Bobobkin war kein dummer Mensch, und so kam er nach Torusk in das Waldlager, in die Kolonne des deutschen Plennys Martin Abels. Da er zu alt war, um mit der Axt gegen die harten Stämme anzugehen, und weil auch die Motorsäge aus seinen feingliedrigen Händen fiel, beschäftigte ihn Abels mit dem Küchendienst. Er mußte Kapusta säubern und Hirsebrei kochen, Graupen einweichen und Trockenfisch auftauen.
An jenem Nachmittag – es war ein heißer Tag, auch das gibt es in Mittelsibirien, wie alles in diesem Lande aus Extremen und Superlativen besteht – ging Martin Abels hinein nach Torusk, um Wasser für seine Arbeiter zu holen. Der Weg ins Dorf war näher als zum Lager zurück, und so klopfte er an die erste Holzhütte und klapperte mit seinen beiden Eimern. Olga und Anuschka kamen aus dem Haus. Martin Abels nickte freundlich, und während Olga Turganowa ihn anstarrte wie ein Untier und sich um ihr hüpfendes Herz kümmerte – da ist er, ein Deutscher, ein Verbrecher, ein Mörder, ein reißendes Tier. O heilige Mutter von Kasan, hilf uns! Er wird uns zerreißen wie ein Wolf! –, lächelte Anuschka zaghaft zurück und blickte auf die Eimer.
»Wer sind Sie?« fragte sie. Martin Abels betrachtete sie wie ein Wesen von einem anderen Stern.
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