Ein Mann für alle Fälle
reichte ihm das Buch.
Mitch schlug es auf und blätterte darin herum. Armand hatte offensichtlich jeden Tag seines Lebens in allen Einzelheiten festgehalten. Wenig später kam Harold herein und stellte ein Tablett auf den Tisch, auf dem eine Platte mit üppig belegten Sandwiches, ein Krug Milch, Salat, Tomaten und ein Teller mit Schokoladenkeksen standen.
Mae blickte ihn an. „Na, haben Sie schon etwas Interessantes gefunden?“
„Ich kann es gar nicht erwarten, Stormy kennenzulernen“, gab Mitch zurück, klappte das Buch zu und warf es auf den Tisch. Das dumpfe Krachen ließ Bob, der vor sich hingedöst hatte, aufschrecken. Er hob ruckartig den Kopf und stieß mit voller Wucht gegen das Tischbein. Mitch zuckte zusammen und wandte sich dann an den Butler. „Harold, wie lange sind Sie schon hier im Haus beschäftigt?“
Harold straffte die Schultern. „Achtundzwanzig Jahre. Falls Sie noch etwas brauchen, läuten Sie.“ Er deutete mit dem Kopf auf eine kleine Messingglocke, die auf dem Tisch lag, doch Mitch wurde das ungute Gefühl nicht los, dass er im Zweifelsfall bis in alle Ewigkeit läuten könnte.
Nachdem Harold das Zimmer verlassen hatte, bediente Mitch sich von der kalten Platte. „Er wurde eingestellt, als Ihr Onkel Sie bei sich aufnahm?“
„Ja. Onkel Gio hat ihn geschickt. Und jetzt zu dem Tagebuch …“
Genüsslich biss Mitch in das dick mit Roastbeef und Tomaten belegte Sandwich. „Warum hat Onkel Gio das getan?“
„Weil er Armand nicht traute.“ Mae nahm die obere Brotscheibe von ihrem Sandwich ab und angelte sich das darunter liegende Stück Käse. „Könnten wir nicht vielleicht endlich zu dem Tagebuch kommen?“
„Hören Sie zu, Mae. Sie können sich mit mir anlegen und damit Ihre und meine Zeit verschwenden, oder Sie können meine Fragen beantworten. Suchen Sie es sich aus. Warum hat Gio Armand nicht getraut?“
Mae, die sich gerade die nächste Scheibe Käse in den Mund schieben wollte, stockte mitten in der Bewegung. „Das alles ist vollkommen lächerlich. Onkel Gio hat Armand bestimmt nicht umgebracht.“
„Das habe ich auch nicht behauptet. Warum hat er Armand nicht getraut?“
Mae wurde wütend. Böse funkelte sie Mitch an. „Okay. Gut. Also - es ist zwar nur eine Vermutung, aber ich glaube nicht, dass Onkel Armand mich deshalb zu sich genommen hat, weil er unbedingt ein Kind wollte.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Weil er sich nie etwas aus mir gemacht hat. Er hat sich einfach nicht für mich interessiert.“ Maes Wut flaute wieder ein wenig ab. „Ich vermute, ein Grund ist der, weil er nicht wollte, dass ich zu Onkel Gio oder Onkel Claud komme.“
„Und was für Gründe gibt es sonst noch?“
Mae zuckte die Schultern. „Keine.“
„Eben haben Sie gesagt,
ein
Grund - also muss es doch noch weitere geben, oder?“
„Nun, ich habe so meine Theorie, aber …“ Mae nahm sich eine Scheibe Roastbeef und biss hinein. „Ich habe letzte Nacht das Tagebuch von 1967 gelesen - das Jahr, in dem ich zu ihm kam.“ Sie sah Mitch nachdenklich an. „Ich habe versucht, mir über einiges klar zu werden. Er war kein einfacher Mensch, aber immerhin habe ich achtundzwanzig Jahre mit ihm zusammengelebt. Ich hatte immer das Gefühl, dass er mich nicht besonders mochte. Und deshalb habe ich das Tagebuch gelesen. Mein Verdacht hat sich bestätigt. Der einzige Grund, weshalb er mich bei sich behielt, war June. Er wusste genau, dass sie nur so lange bei ihm bleiben würde, wie ich auch da war.“
„Warum das denn? Er hätte June doch nur mehr Geld anzubieten brauchen.“
„Es ging June nicht ums Geld. Sie war sehr unglücklich damals. Ihr Sohn Ronnie war gerade gestorben, und sie wollte von hier weg. Dann brachte Onkel Armand mich mit nach Hause, und sie wusste sehr genau, dass ich von Armand keine Liebe bekommen würde, und deshalb blieb sie.“ Mae nahm sich noch eine Scheibe Roastbeef. „Auf diese Weise war es Armand gelungen, drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er hatte Claud und Gio ausgetrickst, und June blieb ihm auch erhalten. Dafür musste er lediglich mich in Kauf nehmen.“
Mitch blickte finster drein. Onkel Armand war offenbar kein besonders netter Mensch gewesen.
„Und Harold? Wann erschien er auf der Bildfläche?“
Mae klaubte sich aus dem nächsten Sandwich den Belag heraus. „Onkel Gio hat ihn hergeschickt, weil er Armand nicht über den Weg traute. Er machte sich Sorgen um mich. Man kann Onkel Gio alles Mögliche nachsagen, aber Kinder liebt
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