Ein Mann fürs Grobe
Lebens nicht mit dieser Scheiße von Sozialwissenschaft verplempert hätte. Woanders spielte die Musik. Ja, es war schon richtig gewesen, zu Savournon zu gehen und in und mit der MCI Karriere zu machen. Er legte sich aufs Bett, schloß die Augen und betrieb seine Übungen im autogenen Training bis zur Schlußformel hin: Ich habe die Kraft, es wird alles geschafft! Er wußte, daß er endgültig aus seinem «Tal der Depressionen», wie er es nannte, herausgekommen war. Was er der MCI aus Friedrichsheide mitgebracht hatte, war wahnsinnig viel. Dieser Schadow war wirklich genial.
Sein Reisewecker, auf 19:00 gestellt, klingelte sanft. Schrotzer rasierte sich noch einmal, betupfte sich mit einer sündhaft teuren Essenz, die ein neuer Grenouille gemixt haben mußte, zog sich an, fuhr in die Hotelhalle hinunter, warf seinen Zimmerschlüssel ein und bat den Mann an der Rezeption, ihm eine Taxe kommen zu lassen.
«Gerne, Herr Dr. Schrotzer, einen Augenblick bitte...»
Es freute Schrotzer, daß man ihn nicht nur höflich, sondern fast schon ein wenig devot behandelte. Wenn er bedachte, daß seine Eltern einige Zeit mit ihm im Obdachlosenheim gelebt hatten und bei ihren Reisen noch heute vornehmlich in Jugendherbergen übernachteten, dann war das schon etwas, das ihn leise erbeben ließ.
Er trat auf die Straße und hörte Joe Cocker singen «Summer in the city». Es mochten vierundzwanzig Grad sein, und die Luft war voll vom schweren Duft der blühenden Linden. War ihm Berlin vor Christos Reichstagsverhüllung eher als häßliches und ewig keifendes Weib erschienen, so gab es sich nun als beschwingte Schöne mit einem Parfüm, das einen zwang, ihr für immer zu verfallen. Es kam ein Augenblick, wo er eins war mit sich und dem Kosmos, dahinglitt ohne Wenn und Aber.
«Bitte sehr, der Herr...!» Die Taxe hielt an seiner Seite, und der Fahrer beugte sich weit über seinen Sitz, um die rechte hintere Tür für Schrotzer aufzustoßen.
«Danke sehr.» Schrotzer stieg ein, schlug die Tür wieder zu und schnallte sich an. «Nach Ferch bitte. Zum Schwielowsee.»
«Ist ja eine schöne Fuhre noch am Abend», sagte der Taxifahrer und gab schon Gas. «Nehmen wir gleich die Autobahn, oder wollen Sie lieber über die Dörfer, wo ’n bißchen was zu sehen ist?»
«Fahren Sie mal über Wilmersdorf, Steglitz, Lichterfelde, Teltow – und erst in Ludwigsfelde auf die Autobahn rauf.»
Der Taxifahrer drehte sich um. «Sie kennen sich ja bestens aus bei uns in Berlin... ?»
Schrotzer lachte. «Ich hab ’ne ganze Weile hier gelebt und hier gearbeitet.» Er war in Plauderstimmung und erzählte einiges von sich und seinen Jobs.
Als sie die Bundesallee hinunterfuhren, tat ihm der Taxifahrer den Gefallen und machte einen kleinen Schlenker in die Koblenzer Straße. «Gratis für Sie, damit Sie noch mal sehen können, wo Sie gewohnt haben.»
Schrotzer freute sich über das Wiedersehen mit seinem alten Kiez. «Das waren schöne Jahre hier... In der Vater-Unser-Kirche sind meine Frau und ich getraut worden, und im Gertrauden-Krankenhaus hinten ist mein Sohn zur Welt gekommen. Aber immer von der Arbeitslosigkeit bedroht zu sein, das nimmt einem die Lebensfreude schon ein bißchen. Wie läuft es denn bei Ihnen so?»
Der Taxifahrer zuckte mit den Schultern. «Mehr recht als schlecht. Ohne Mauer, da gibt’s ja kaum noch Touristen hier, und die Firmen, die sparen auch alle und lassen ihre Leute nicht mehr so ohne weiteres Taxi fahren. Heute vormittag hab ich in Frohnau am Zeltinger Platz fast eine Stunde lang gestanden und gewartet.»
«Ah, da bei Pantalone am Donnersmarckplatz, da war ich gestern mit Prof. Schadow essen. Exquisit.»
«Dazu reicht es bei mir nicht ganz», sagte der Taxifahrer. «Aber wenn wir erst richtige Hauptstadt sind...»
Nun schwiegen sie eine Weile. Schrotzer hing wieder seinen Erinnerungen nach. In den Geschäften der Schloßstraße hatten Gabi und er manche Mark gelassen, im «Bierpinsel» ab und an gegessen und im Schloßpark-Theater dem großen Bernhard Minetti gehuldigt. Hindenburgdamm, Klingsorstraße – im Klinikum Steglitz hatten sie ihm die Gallensteine rausgenommen. Goerzallee in einer Seitenstraße hatte Karen gewohnt, Gabis Vorgängerin. Mit der hatte er seinen Rekord aufgestellt: sechsmal am Tag. Sie kamen nach Teltow und Stahnsdorf und kurz dahinter durch sozusagen böhmische Dörfer wie Schenkenhorst, Nudow oder Ahrensdorf. Die Dämmerung brach langsam herein, und die Mark Brandenburg gab sich alle Mühe,
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