Ein Mann - Kein Wort
doch auch Lehrer und Lehrerinnen, Busfahrer, Bestattungsunternehmer, Verkäuferinnen und viele weitere Berufsstände sind häufig starkem emotionalem Stress ausgesetzt; ebenso alle Menschen, die im Gesundheitsbereich beschäftigt sind, wo es immer um gesund oder krank, oft auch um Leben oder Tod geht. Ein höchst erfolgreicher Chirurg in Chefarztposition erzählte mir beispielsweise einmal, dass er sich während seiner hoch komplizierten Operationen keinerlei Gefühle (beispielsweise Mitgefühl mit dem Kranken oder Sorge um sein weiteres Schicksal) leisten könne, weil er sonst in seiner Arbeit, die höchste Konzentration verlangte, beeinträchtigt wäre.
Nach
einer Operation befände er sich manchmal jedoch vorübergehend in einer geradezu hochemotionalen Stimmung. Es scheint, als ob sich die verdrängte Emotionalität kurzfristig eine Art Ventil suchte.
Er sagte darüber hinaus noch etwas sehr Aufschlussreiches: »Und wenn ich den ganzen Tag meine Gefühle mehr oder weniger wegschließen muss, dann kann ich sie abends nach Dienstschluss nicht wie einen Wasserhahn einfach wieder aufdrehen.« Er wollte mir damit deutlich machen, was seine potenzielle Partnerin oder Lebensgefährtin von ihm in emotionaler Hinsicht zu erwarten hatte – nämlich herzlich wenig. Nach Dienstschluss in der Klinik wenige Zeit später zu Hause ein gefühlvoller, einfühlsamer Gesprächspartner zu sein, war utopisch; viel realistischer wäre es für die Partnerin, mit einem physisch und psychisch vollkommen erschöpften Mann zu rechnen, der nur noch seine Ruhe braucht, um emotional langsam wieder aufzutauen – sofern ihn nicht vorher der Schlaf übermannt.
Ich bezweifle, dass dieser Chirurg ein Einzelfall ist – ich vermute eher, dass er stattdessen zu jenen Ärzten gehört, die sich dieses Zwanges zur Gefühlsverdrängung mitsamt seiner Konsequenzen im Privatleben in ungewöhnlich hohem Maß bewusst sind. Ähnliches gilt jedoch, wie schon erwähnt, auch für viele andere Arbeitsfelder, in denen man es entweder mit schwierigen Menschen, problematischenoder leidvollen Schicksalen oder höchst gefährlichen Situationen zu tun hat.
Gehen Frauen in Berufe, die ihnen einen höchst disziplinierten Umgang mit Gefühlen abfordern, so ist es selbstverständlich notwendig, dass sie diese Fähigkeit ebenfalls einüben. Den Frauen, die solche Berufe freiwillig wählen – wovon hierzulande auszugehen ist –, gelingt dies in der Regel auch. Doch allzu leicht hat diese Anpassung an die Herausforderungen der Arbeit zur Folge, dass diese Frauen, vor allem wenn sie in Führungspositionen gelangen, von männlichen – aber auch weiblichen – Kollegen und Mitarbeitern oft als »unweiblich« und »kalt«, ja womöglich abwertend als »Mannweib« eingestuft werden. Dies macht deutlich, welche einander widersprechenden, ja, sich teilweise geradezu ausschließenden Erwartungen (»Sei ganz professionell, aber auch ganz weiblich«, was immer das heißt) an berufstätige Frauen teilweise auch heute noch gestellt werden.
Wie war es bei mir selbst? Ich arbeitete über ein Jahrzehnt im kirchlichen Dienst als Vikarin und Pfarrvikarin 29 , was zahlreiche Trauerfeiern und Beerdigungen mit sich brachte. Es war unbedingt notwendig für mich, zu lernen, mein unter Umständen aufwallendes Mitgefühl mit den trauernden Angehörigen oder auch meine eigene Trauer um die verstorbene Person (sofern ich sie gekannt hatte) so perfekt unter Kontrolle zu halten, dass mich diese Trauer nicht spontan während der Trauerfeier übermannte und mich dadurch an der Ausübung meiner Dienstpflicht gehindert hätte. Mit anderen Worten: Es gehörte zu meiner
Professionalität
, nicht plötzlich in Tränen oder gar haltloses Schluchzen auszubrechen, auch nicht mit versagender oder allzu zittriger Stimme meine innere Aufgewühltheit zu erkennen zu geben. Dies war zwar den Angehörigen erlaubt, aber nicht mir als »Amtsperson«! Hinterher war schließlich noch genug Zeit zu weinen, wenn mir danach zumute war …
Allerdings ist genau hier ein Haken. Es zeigt sich nämlich, dasses keineswegs so einfach ist, unterdrückte bzw. »auf Eis gelegte« Gefühle einige Zeit später quasi wie aus einem Kühlfach wieder hervorzuholen und auftauen zu lassen. Meist bleiben sie erst einmal erstarrt und verdrängt – manchmal sogar für immer, wie sich beispielsweise an der Arbeit mit Trauma- oder Folteropfern zeigt. Gerade bei ihnen hat diese Verdrängung jedoch höchst tragische gesundheitliche und
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