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Ein Mann - Kein Wort

Ein Mann - Kein Wort

Titel: Ein Mann - Kein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Weingardt
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außen dringen zu lassen. Stattdessen wirkt sein Verhalten eher so, als ob er sich
gar keiner Gefühle bewusst sei
(abgesehen von seiner anfänglichen Empörung und Ratlosigkeit, als er vor verschlossener Tür stand).
    Und in der Tat: Der Unterschied zwischen Männern und Frauen in puncto Gefühlen besteht sicher nicht in erster Linie darin, dass Frauen grundsätzlich »emotionaler« reagieren als Männer. Man sehe sich nur die überschäumenden Emotionen der Männer bei Sportereignissen und -wettkämpfen an. Man beobachte die hoch emotionalen Reaktionen von Männern im Straßenverkehr. Man studiere die von Männern dominierte Gewaltkriminalität, die nicht mit kalter Vernunft, sondern mit blindwütiger Emotionalität zusammenhängt – um nur drei Bereiche zu nennen, in denen Männer offenbar das emotionalere Geschlecht sind.
    Der Unterschied dürfte vielmehr darin liegen, dass es Männern tendenziell schwerer fällt, ihre Emotionen ins Bewusstsein zu holen, sprich:
sich über das, was sie empfinden, im Klaren zu sein oder gar mit Worten Rechenschaft zu geben
.
    Ein Beispiel: Während meiner Tätigkeit als Seelsorgerin in einem Altenheim hatte ich, wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner verstorben war, als Vorbereitung der Beerdigung ein oder mehrere Trauergespräche mit den Angehörigen zu führen. Oft saß mir aus diesem Anlass ein selbst schon in den Fünfzigern oder Sechzigern stehender Sohn gegenüber, den ich im Lauf des Gesprächs in der Regel fragte, was ihn mit seiner Mutter, seinem Vater besonders verbunden hätte. Ob er das Wesen seines Vaters, seiner Mutter näher beschreiben könne? Ob er sich von ihm oder ihr anerkannt und geliebt gefühlt hätte? Und was er jetzt, nach ihrem Tod, für ihn oder sie empfände?
    Meine überwiegende Erfahrung bei solchen Gesprächen war, dass diese erwachsenen, oft beruflich sehr erfolgreichen Söhne großenteils hilflos und stumm wie Kinder dasaßen. Es fiel ihnen schwer, meine Fragen zu beantworten, ja, es fiel ihnen in vielen Fällen sogar schwer, ihrer Trauer über den erlittenen Verlust irgendeinen verbalen Ausdruck zu geben. Die Bindung an den verstorbenen Elternteil war da, war spürbar, oft auch spürbar tief – doch außer stummen Signalen wie traurigen Augen, hängenden Schultern, einem Zucken des Mundes oder einer vereinzelten (!) Träne wies nichts auf die Gefühlswellen hin, die in ihrem Inneren wogten. Es war gewiss nicht so, dass diese Söhne nichts empfanden oder dass sie sich wortlos weigerten, mir meine Fragen zu beantworten – eher hatte ich den Eindruck, dass sie buchstäblich um Worte ringen mussten. Ja, mir schien, als ob sie es schlichtweg
nicht fertigbrachten
, ihren Gefühlen angemessenen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Ihre Empfindungen waren eingeschlossen wie in einem Tresor, zu dem sie den Schlüssel nicht fanden! Kein Gott verlieh ihnen, um noch einmal mit Goethe zu sprechen, die Gabe, zu sagen, wie sie leiden! Oder: Gab er sie ihnen – und sie hatten diese Gabe schlicht und einfach nie entfaltet, sondern sie verkümmern lassen? Darauf möchte ich später zu sprechen kommen.
    Zu vermuten bleibt: Die Mehrheit dieser erwachsenen Männer hatte Schwierigkeiten damit, ihre Empfindungen, die ja zunächstnonverbal und infolgedessen unbewusst sind, ins Bewusstsein zu befördern und sie dadurch sprachlich ausdrücken zu können.
    Inzwischen weiß ich aus vielen Beratungsgesprächen: Die Beobachtungen, die ich damals bei meinen Trauergesprächen machte, gelten nicht nur dann, wenn Männer einen lieben Menschen durch Tod verlieren. Sie gelten für alle Lebenssituationen, die mit negativ gefärbten, man könnte auch sagen, mit schwachen Gefühlen verbunden sind. Zu diesen Gefühlen zählen beispielsweise Angst, Scham, Sorge, Bedrohung, Verletzung, Trauer, Schuld, Hilflosigkeit etc. Wie wir heute wissen, werden diese Emotionen eher in der rechten Hirnhälfte aktiviert und gespeichert. Die rechte Hemisphäre verfügt – zumindest bei rechtshändigen Männern – jedoch nicht über Sprache und damit auch nicht über Bewusstsein. Um die Inhalte dieser Hirnhälfte ins Bewusstsein zu befördern, müssen sie via »Balken« (so lautet der deutsche Ausdruck für den Nervenstrang, der rechte und linke Hirnhälfte verbindet, das sogenannte
corpus callosum)
in die linke Hemisphäre transportiert werden, wo sich die für Sprache zuständigen Hirnareale befinden.
    Es gibt Hinweise darauf, dass diese Verbindung bei Frauen mehr Nervenfasern beinhaltet als bei

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