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Ein Mann von Welt

Ein Mann von Welt

Titel: Ein Mann von Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antoine Wilson
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würde, nur um zu sehen, was er davon hielt, nicht als Beteiligter, sondern als Denkerkollege und Mann der Wissenschaft. Es war natürlich problematisch, dass eine der Bedingungen des Experiments besagte, dass ich Paul Renfro nicht sehen sollte, aber da ich der wissenschaftliche Leiter des Experiments war, dachte ich mir, es wäre nicht so schlimm, wenn das Experiment nicht ganz pünktlich beginnen würde. Es kam mir einfach nicht fair vor, mich von Paul abzuwenden,
ohne ihn darüber zu informieren, was los war, schließlich war er ja mein Freund. Rückblickend – und hinterher ist man immer klüger, heißt es jedenfalls, aber ich bin mir da nicht so sicher – hätte ich wahrscheinlich lieber erst mal eine klinische Studie mit Pauls Ideen durchgeführt und nicht mit denen von Tante Liz, aber wie Paul mir sehr viel später erklärte, war es Tante Liz, die Dr. Rosenkleig bezahlte, und in der sogenannten professionellen Welt folgt die Forschung üblicherweise dem Sponsor. Ich sagte Jay-Bee, ich müsste noch etwas erledigen, und wenn es ihm nichts ausmachte, wollte ich gern nach North Hollywood fahren, ich sagte ihm, ich hätte etwas auf Pauls Dachterrasse vergessen, allerdings erwähnte ich Pauls Namen vorsichtshalber lieber nicht. Jay-Bee sagte, er wäre für alles zu haben, seine Worte, und wir gingen auf den Parkplatz zu seinem fantastischen Auto, es strahlte in Gold metallic, und Jay-Bee teilte mir mit, es sei ein Klassiker, ein Datsun, ein 280Z. Es war schwer für mich, da reinzukommen, also körperlich, aber sobald ich die Rückenlehne zurückgestellt hatte, war es ganz bequem, mein Kopf war fast auf derselben Höhe wie meine Füße. Da mitzufahren war ungefähr so, wie eine Wasserrutsche runterzurutschen, außer dass ich trocken blieb und auf die Straße schaute. Ich erzählte Jay-Bee, dass ich eine Vorliebe für Fahrräder hatte, aber wenn ich je ein Auto haben sollte, müsste es dieses sein. Er lächelte und sagte, seine Worte, falsche Ziele, falsche Ziele.

    Ich will deine Mutter nicht noch mehr beunruhigen, als sie sowieso schon beunruhigt ist, und dich will ich da drin auch
nicht beunruhigen, aber gerade schläft sie, sie schläft tief und fest, sie atmet langsam und regelmäßig, und deshalb kann ich dir erzählen, was ich weiß und wovon ich weiß, dass sie es nicht weiß. Deine Mutter, deine liebe Mutter, sie glaubt, ich würde übertreiben, sie glaubt, ich würde mir grundlos Sorgen machen, oder vielleicht nicht gerade grundlos, aber sie glaubt, ich würde bald aus dem Krankenhaus rauskommen, während ich weiß, dass ich hier den Exitus machen werde. Gestern war es, als deine Mutter in der Cafeteria war, sie ist ja sonst die ganze Zeit hier an meiner Seite, aber sie hat Bedürfnisse, du hast Bedürfnisse, du regst ihren Appetit an, während deine Mutter also gerade draußen war, hörte ich, wie die Schwestern sich unterhielten. Der Vorhang hing zwischen uns, sie sahen mich also nicht, aus den Augen aus dem Sinn, sie sprachen ganz offen im Flur, sie dachten, niemand würde zuhören, und eine von ihnen sagte, ich würde die Nacht nicht überleben, also heute Nacht, also werde ich keinen Sonnenaufgang mehr sehen. Ehrlich gesagt, Juan-George, habe ich nie viel Zeit damit verbracht, über den Tod nachzudenken, ich habe nie daran gedacht, dass ich mal sterben würde, ich habe immer angenommen, dass der Exitus weit entfernt wäre, und zu hören, dass es in weniger als vierundzwanzig Stunden so weit ist, zu hören, dass ich es nicht bis morgen schaffen werde, das war schon ein Schock, und es ist immer noch ein Schock. Aber ich wusste sofort, was zu tun war, ich wusste, was passieren musste, um sicherzustellen, dass dir meine Erfahrungen etwas nutzen. Wenn du mich vor zwei Wochen gefragt hättest, was ich machen würde, wenn ich nur noch eine Nacht zu leben hätte, weiß
ich nicht, was ich gesagt hätte, aber als ich hörte, was die Schwestern sagten, hatte ich gar keine Zeit, mir lang eine Antwort zu überlegen, ich wusste es gleich. Die andere Schwester antwortete, man muss der Natur ihren Lauf lassen. Und da wusste ich, dass ich zumindest von einer Denkerkollegin gepflegt wurde. Gott sei Dank für diesen Vorhang! Sie hätten mir diese Dinge niemals ins Gesicht gesagt, Juan-George, sie hätten mir das auf gar keinen Fall direkt gesagt, aber dank dieses Vorhangs haben sie offen geredet, und damit haben sie uns ein Geschenk gemacht, sie haben einen anderen Vorhang aufgezogen.

    Auf dem Weg zu Paul Renfros

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