Ein Mann will nach oben
kennenlernen. So faltete er sich den Stadtplan zurecht und gingden Weg von der Baustelle in Pankow bis zum Wedding, den Rucksack des Maurers Busch hatte er sich auf den Rücken gehängt. Er ging und ging. Er verweilte sich nicht, aber immerzu ging sein Kopf hin und her. Die lockere Stadt schloß sich enger und enger um ihn, sie saugte ihn in sich hinein. Der Lärm wuchs, höher schienen die Häuser zu wachsen, grauer wurden ihre Fassaden, eiliger liefen die Menschen. Es schien ihm nicht eine Stadt zu sein, durch die er ging, sondern ein Gemisch von vielen Städten, fast jede Straße trug ein anderes Gesicht, nach breiten, in spiegelndem Asphalt liegenden kam er in enge, über deren Kopfsteine schwere Wagen donnerten.
Ein wenig bedrückt und trübe ging Karl Siebrecht durch die große Stadt, und es munterte ihn erst wieder auf, als er jetzt, gegen den Schluß seiner Wanderung, nach so viel Steinen einen grünen Fleck entdeckte mit Bäumen und Gebüsch, Humboldthain genannt. So etwas gab es also doch in allernächster Nähe der Wiesenstraße – ein wahrer Trost, auch für die Füße, die von dem ungewohnten Stadtpflaster höllisch brannten. Langsam ging er auf den regenerweichten Fußwegen, sah das entfärbte Grün des Rasens wohlgefällig an, als habe er so etwas schon Jahre nicht mehr gesehen, und besann sich schließlich sogar auf seine Frühstücksbrote, die noch immer die Taschen seiner Joppe strammten. Auf und ab wandelnd, verzehrte er sie. Berlin war nicht ganz so strahlend, wie er es sich erträumt hatte, aber es war auch nicht so schlimm, wie es an diesem grauen Novembertage aussah: er würde die Stadt schon kriegen! Freilich, als er dann den Humboldthain wieder verlassen mußte, als er in die Wiesenstraße einbog, als er dann über die Höfe ging, als er die Treppe zur Buschschen Wohnung hinaufstieg und es ihm wieder klarwurde, daß er nun gleich der Rieke würde erzählen müssen, er hatte keine Arbeit, er hatte aber ihren Vater um seine Arbeit gebracht, und daß der Vater wieder in einer Schenke saß und trank – da fiel alle Aufmunterung von ihm ab, und er war nur noch ein Junge, der etwas ausgefressen hat, der sich seiner Taten schämt und der nur den Wunsch hat, die nächste Viertelstunde möchte erst vorbei sein.
Doch Rieke kam noch gar nicht, und das war ihm auch wieder nicht recht. Die Wohnungstür war verschlossen, drinnen hörte er Tilda trappeln und schwätzen, draußen hing eine Schiefertafel mit dem Satz »Bin um Fier wieder da«, was auf einen nicht völlig erfolgreichen Schulbesuch Riekes schließen ließ. Blieb als letzte Hoffnung nur die Wirtfrau Bromme, und die wußte auch nicht viel Tröstliches. »Der Schlüssel? Na, den einen hat die Rieke, die is uff ihre Abwaschstelle. Die kommt nur schnell um vieren vorbei und sieht nach Tilda und jibt ihr Milch. Und denn jeht se ins Büro von Rechtsanwalt Schneider reinmachen, da kommt se nich vor siebenen zurück –« War also Beichte und Aussprache bis auf den Abend verschoben, und dann war vielleicht der alte Busch schon wieder in der Wohnung, aber in welchem Zustand! »– und den anderen Schlüssel hat der olle Busch, biste denn mit dem nich losjezittert, Jung?« Doch das war er, nur … »Hat wohl nich so jeklappt mit de Arbeet? Ha’ ick mir jleich jedacht! Wat haste denn jemacht den janzen Morjen? Koks jetragen? Ick seh’s an deine Hände! Wat haste denn dafür jekriegt? Nischt? Ach, red nicht – entweder biste doof oder du schwindelst!«
»Ich soll um vier bei einem Herrn in der Kurfürstenstraße sein«, lenkte Karl Siebrecht ab.
»In der Kurfürstenstraße? Det is ja der feine Westen! Da würde ick nich hinjehen, det ist doch nischt für unsereinen! Bleibe im Lande und nähre dich redlich!«
»Und da hätte ich gerne mein anderes Zeug angezogen …«
»Ach so! Desterwejen der Schlüssel! Ja, Jung, da kann ick dir ooch nich helfen! Wenn de nich bis vieren uff Rieken warten willst? Det Zeug von meinem Seligen ist dir zu füllig. Aber der Bäcker, der Bremer, liegt ja uff sein Bette und pennt, weil er Frühschicht jehabt hat – vielleicht det der dir seine Klamotten pumpt. Dieselbe Jröße habt ihr ja, nur det der Bäcker breiter is …«
Der Bäcker Ernst Bremer lag wirklich auf dem Bett, in seinem Arbeitszeug, das genauso weiß bestäubt aussah wie sein Gesicht, mit den traditionellen nackten Bäckerfußen: die Latschenlagen vor dem Bett. Aber er schlief nicht, sondern blinzelte mit seinen dunklen Augen den Karl Siebrecht an.
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