Ein Mann will nach oben
’ne verdammt hochnäsige Schnauze hättest! Wenn man vernünftig mit dir reden könnte!«
Gott sei Dank kamen jetzt die ersten Reisenden des Schwedenzuges aus dem Seitenportal. Sie riefen: »Droschke! Droschke hierher!« Und ein dicker Berliner schrie schallend: »Ein Droschkong erster Jüte!« Ein Gepäckträger schalt die Dienstmänner: »Wo bleibt ihr bloß? Der Zug ist längst drin!«
Im Augenblick waren die Dienstmänner verschwunden. In der immer dichter werdenden Flut der Reisenden sah man hier und dort ihre roten Mützen. Sie waren zerteilt, auseinandergerissen, ehe sie noch der von Kiesow geäußerten Antipathie einmütig zugestimmt hatten. Es würde jetzt ein, zwei Stunden dauern, bis sie wieder zusammenkamen, Stunden, in denen jeder für sich nachdenken konnte. Karl Siebrecht atmete auf, vielleicht war das seine Rettung.
26. Zusammenstöße
Kalli Flau berührte Karl Siebrecht an der Schulter: »Du«, sagte er. »Komm! Ich hab eine feine Fuhre nach dem Westen geschnappt, fünf Koffer und zwanzig Schachteln! Oder auch zehn! Und einen großartigen, echt englischen Bullenbeißer! Mensch, ist das ’ne Töle! Mir ging er gleich in den Hosenboden! Wo ist denn der Opa –?«
»Eine Fuhre nach dem Westen? Eigentlich wollte ich jetzt nicht … Na, wenn du sie schon geschnappt hast, hilft es nichts! Wir können das andere auch am Nachmittag besprechen. Los, Opa, schieb deine Karre an den Ausgang.«
»Jotte doch, Junge«, fing der Opa zu jammern an. »Det hättste doch nich machen sollen! Die sind ja alle so jiftig uff dir, die vatrimmen dir, da kannste Jift druff nehmen! Wozu bloß? Du hattest doch deinen juten Vadienst –«
»Also los, Kalli!« Karl Siebrecht war nicht gesonnen, sich dies Gegreine geduldig anzuhören. »Wo stehen denn die Koffer?«
»In der Halle! Was hat denn der Opa? Was hast du denn ausgefressen, Karl? Hast du Streit mit den anderen gehabt? Wenn sie dich vertrimmen wollen, muß ich auch dabeisein!«
»Ich erzähl’s dir nachher, Kalli! – Sind das die Koffer? Das ist eine schöne Wucht. Guten Morgen, mein Herr – wohin sollen die Koffer? – Ach, verzeihen Sie! Guten Morgen, Herr Rittmeister!«
Und der Herr von Senden und Karl Siebrecht sahen sichwieder einmal an, mitten im Gedränge des Stettiner Bahnhofs. »Du siehst, wir treffen uns immer wieder, Karl!« lächelte der Rittmeister und bot dem Jungen seine Hand. »Und jetzt bist du also unter die Gepäckträger gegangen? Wo werden wir uns das nächste Mal wiedersehen? Was wirst du dann sein?«
Der Junge hatte die Hand nur flüchtig gedrückt. Jetzt bückte er sich nach den Koffern. »Ich weiß schon, Kurfürstenstraße zweiundsiebzig«, sagte er.
Aber er bekam einen so kräftigen Stoß, daß er taumelte. Der Dienstmann 13 namens Kiesow schrie: »Willst du machen, daß du hier wegkommst, verdammter Lümmel! Du hast hier gar nichts zu suchen! – Verzeihen Sie, mein Herr«, sagte er zu dem Rittmeister, »aber der Junge ist nicht berechtigt, hier Gepäck anzunehmen. Das sind so Bengels, Herumtreiber, denen dürfen Sie keinen Handkoffer anvertrauen, schon ist er weg! – Au, verdammter Köter!«
Denn die englische Bulldogge hatte an der Leine der gnädigen Frau, der Frau von Senden, der geborenen Kalubrigkeit, einen Satz gemacht und den streitbaren Dienstmann angegangen. Der Rittmeister griff fest in die Leine. »Down, Daisy!« befahl er. Und mit erhobener Stimme: »Down, sage ich, Daisy!« und sanft zum Dienstmann: »Sie irren sich, mein Freund, dieser Junge ist berechtigt, mein Gepäck anzunehmen, er
ist
vertrauenswürdig. Außerdem ist er mein Freund. Nicht wahr, Karl, das bist du doch?«
Der Dienstmann 13, Kiesow, sah argwöhnisch von einem zum anderen, ganz unsicher, was nun wieder gespielt wurde. Aber gegen diesen Reisenden in seinem riesig karierten, echt englischen Mantel war nichts zu sagen. Wie ein Mitverschworener dieses Bengels sah er nicht aus. Also tippte er an sein Mützenschild, sagte brummig: »Na, denn entschuldigen Sie man, ich dachte bloß …« Und schob ab, nicht ohne einen unheilverkündenden Blick auf Karl Siebrecht zu werfen.
»Muß ich hier noch lange stehen, Bodo?« fragte die geborene Kalubrigkeit spitz. »Oder hast du deine Unterhaltung jetzt beendet?«
»Diesen Moment!« antwortete der Rittmeister. Und zu Karl Siebrecht: »Also, wir sehen uns dann in der Kurfürstenstraße. – Bitte, meine Liebe!« Er ging mit ihr fort, halb vor ihr, während die Bulldogge mit der gespaltenen Nase gegen seine
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