Ein Mann will nach oben
sich genau überlegte, unterschied ihn etwas Wesentliches von seinen beiden Freunden, Kalli Flau und Rieke Busch. Es war nicht die Sprache, die ihn von Rieke Busch unterschied, und nicht die bessere Schulbildung, die er vor Kalli Flau voraushatte. Das waren unwesentliche Dinge. Man konnte sich sehr gut eine Rieke mit einwandfreiem Deutsch denken und einen Kalli, der etwas vom alten Homer gehört hatte. Die Freunde wären darum nur wenig anders gewesen! Nein, was ihn ganz wesentlich von den beiden unterschied, war, daß diese beiden ganz zufrieden mit ihrer jetzigen Lage waren. Sie verdienten genug, sie konnten sogar etwas zurücklegen, also schön, was nun noch? Nichts weiter! Vielleicht hatte Rieke Busch noch einen kleinen Traum vom Vorwärtskommen, aber weiter als bis zu einer von ihr geführten Schneiderstube reichte er auch nicht. Kalli Flau aber war ein vergnügter Vogel, der jeden Tag für das Seine sorgen ließ, er dachte nicht weiter als bis zum nächsten Brot.
Das alles war nun in Karl Siebrechts Augen gar nichts. Er wollte voran. Hier den gerade noch geduldeten Handlanger eines alten Dienstmannes zu spielen, das war für ein paar harte Winterwochen ganz recht gewesen, aber auf die Dauer konnte es nicht genügen. Wenn Kalli Flau manchmal davon sprach, daß mit der Zeit wohl die Mütze des Dienstmannes 77 auf sein Haupt übersiedeln würde, so konnte er darüber nur lächeln. Ein Dienstmann werden – du lieber Himmel, wahrhaftig, und was dann? Dann kam gar nichts mehr, Dienstmann war schon ein Schlußpunkt. Es gab nicht einmal Oberdienstmänner – lachhaft! Dies war der Unterschied zwischen Karl Siebrecht und seinen Freunden: sie wollten so wenig. Eigentlich wollten sie gar nichts als nur leben, und das war, weiß Gott, wenig vom Leben verlangt, nur leben! Karl Siebrecht wollte viel mehr. Jetzt, da er in der Stadt Berlin heimisch geworden war, schämte er sich, daß er einmal von der Eroberung dieser Stadt geträumt und gesprochen hatte. Es klang so verdammt großschnauzig. Wenn Rieke Busch nureinmal scherzhaft eine Anspielung auf diesen Traum machte, wurde er saugrob. Sie solle gefälligst an gewisse Unterschriften denken, jeder rede und mache einmal eine Dummheit, sie müsse ihm nicht ewig unter die Nase gerieben werden! So verschloß er ihr den Mund. Er verschloß sich selbst den Mund, nicht einmal in seinen ehrlichsten Stunden gestand er sich, daß der Traum von der Eroberung Berlins noch immer in ihm lebte. Er dachte an etwas anderes, an etwas viel Größeres, als die beiden sich je träumen ließen, aber immerhin an etwas Mögliches. Er sagte ihnen nichts davon, ahnungslos war Kalli Flau um die Ecke des Bahnhofs gegangen, Rieke Busch wußte nichts davon, daß er nun im Begriff stand, ihre Groschen aufs Spiel zu setzen. War das alles? Nein, wenn er dies erreicht hatte – und es konnte sehr gut schiefgehen, es konnte viel eher schiefgehen als gelingen –, wenn er dies erreicht hatte, so kam sofort etwas anderes. Und dahinter ein Neues! Und wieder dahinter mehr, noch mehr … Gott verdamm mich! dachte er und bewegte die Schultern im Gefühl der Kraft unter der sonnenwarmen Wolljacke. In den nächsten Jahren werde ich nicht viel Ruhe kriegen, und der Kalli auch nicht. Der Junge wird sich noch wundern, wie ich ihn rumtreiben werde!
Er hatte die Dienstmänner bei all diesen Überlegungen und Erinnerungen nicht aus dem Auge gelassen. Sie hänselten noch immer den alten Küraß mit seinen beiden Haifischen. Er würde ihnen gleich anderen Stoff zum Hänseln und Hecheln geben! Noch acht Minuten bis zum Warnemünder Zug, der die Dienstmänner in alle Windrichtungen zerstreuen würde! Gerade noch Zeit genug für sein Vorhaben! Nur nicht sich auf lange Quackeleien einlassen! Unwillkürlich warf Karl Siebrecht einen Blick zu der Seite hin, wo Kalli Flau verschwunden war. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, Kalli von dieser Unterredung auszuschließen. Der hatte die Gabe, die Leute mit einem Witz guter Stimmung zu machen. Aber das war nun zu spät. Er hatte auch immer gedacht, es wäre besser, wenn er seine erste Schlacht allein schlug. Er würde schon aufpassen, daß er diesmal nicht zu scharf wurde.Er hatte in letzter Zeit eine Neigung bei sich festgestellt, zu scharf zu werden, zu kommandieren. Das kam von seiner Stellung zu Rieke und Kalli her; da war er stillschweigend als Führer anerkannt worden. Aber andere würden nicht so stille schweigen.
Noch sieben Minuten! Siebrecht schluckte noch einmal
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