Ein Mann zum Abheben
schließt den Deckel über dem Grill, dreht sich ganz zu ihr um und geht in die Hocke. Sie stecken die Köpfe zusammen, schauen auf ihre flache Hand hinunter, und die Ähnlichkeit zwischen beiden macht mich betroffen. Sie ist die Tochter ihres Vaters, aber wichtiger noch: Er ist der Vater meiner Tochter. Und natürlich bin ich froh, dass er in dieser Rolle aufgeht, dass sie in der Wärme ständiger Anerkennung lebt. Natürlich bin ich froh, dass sie sich nie um seine Aufmerksamkeit bemühen muss, und doch - während ich sie durch das Fenster beobachte, ist dieser vertraute Stich da. Denn während er sich über ihre Hand beugt, kann ich sehen, dass er liebevoll sein kann. Dass seine Gleichgültigkeit mir gegenüber auf freier Entscheidung basiert, dass sie eine von mehreren Möglichkeiten ist. Manchmal sage ich mir, dass er nur verletzt ist. Frauen sagen über Männer immer solche Sachen. Dass sie ihre Gefühle nicht zeigen können, dass sie ihre Sicht der Dinge nicht aussprechen können, dass sie anders als wir gepolt sind - fast so als wären sie eine eigene Gattung - und dass wir ihr Schweigen nicht persönlich nehmen sollen. Doch dann sehe ich Phil wie in diesem Augenblick, sehe ihn, wie er sich auf die Veranda kniet und Torys Hand in seine nimmt, und mir wird bewusst, dass er nicht verletzt ist
und ich es mir nur eingeredet habe. Er könnte mich lieben. Aber er tut es nicht.
Die Blutung ist fast zum Stillstand gekommen. Ich werfe das feuchte Handtuch auf den Tisch und nehme das Handy aus meiner Tasche.
Ich wähle schnell. Dieses Mal alle zehn Ziffern. »Gerry, ich bin’s, Elyse.«
Kapitel 6
Einmal in der Woche schicken die Frauen der Kirchengemeinde Essen an Bettlägerige, Mütter im Wochenbett und Menschen, die einen Todesfall in der Familie haben. Überwiegend machen das die älteren Damen, sieht man einmal von Nancy ab, die nicht nur das in unserer Kirche mittwochs durchgeführte Projekt Essen-auf-Rädern leitet, sondern freitags auch die Route einer anderen Kirchengemeinde übernimmt. Belinda hilft ihr aus schlechtem Gewissen, weil Nancy ständig allen Leuten erzählt, wie schwer die Tabletts sind und die alten Damen sie nicht in den Lieferwagen heben können. Wenn Belinda nicht da ist, muss Nancy fünfunddreißig Tabletts selber tragen.
Um zu Jeffs Büro zu gelangen, muss ich an der Küche der Kirchengemeinde vorbeigehen. Einen Augenblick lange überlege ich mir, den ganzen Weg um das Gebäude herum zu nehmen und den Hintereingang zu benutzen, aber nein, dass würde aussehen, als würde ich mich schämen oder so, und es gibt nichts, dessen ich mich schämen müsste. Abgesehen davon ist an der hinteren Tür eine Alarmanlage angebracht, die leicht losgeht, und das fehlt mir gerade noch. Ich gehe schnell an der Küche vorbei, dennoch sieht Belinda mich.
»Elyse?«
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als hineinzugehen.
Gott sei Dank ist sie allein und fragt mich nicht, was ich an einem Mittwochmorgen so früh hier mache. Wahrscheinlich hat ihr Nancy erzählt, dass Phil und ich eine Eheberatung bei Jeff anfangen. Es gibt keine Privatsphäre, zumindest nicht in einer so kleinen Kirchengemeinde wie dieser.
»Ich will dir was zeigen«, sagt Belinda. »Du wirst dich wundern.«
Sie führt mich nach hinten zu den zweitürigen Gefrierschränken und öffnet sie. Dort liegen, eingewickelt in Alufolie und so ordentlich aufgeschichtet wie Backsteine, etwa hundert Kasserollen.
»Für was sind die denn?«
»Für Notfälle«, antwortet Belinda.
»Die müssen mit einer Menge Notfälle rechnen.« Ich kämpfe dagegen an, einen Backstein von dem darunterliegenden zu lösen. Oben auf jeder Kasserolle ist eine Karteikarte in der Größe 76 mal 127 Millimeter aufgeklebt, auf der Anweisungen stehen. Ich schiele nach unten auf die krakelige Handschrift. »›Hühnchen mit Nudeln und Pilzen. Eine Stunde lang bei 180 Grad erwärmen.‹ Meine Großmutter hat so was gemacht.«
»Meine auch«, bestätigt Belinda. »Ich glaube nicht, dass sie jemals irgendetwas gemacht hat, was nicht nach einer Dose von Campell’s Pilzcremesuppe geschrien hat. Schau dir die an, die ganz unten, auf denen stehen Namen. Da gibt es einen ganzen Haufen von Miss Bessie Morgan, und dabei ist sie seit Jahren tot.«
»Woher weißt du überhaupt, dass die hier drin liegen?«
»Nancy hat heute Morgen drei davon rausgeholt. Sie bringt sie zu David Fontana.« Obwohl wir allein sind, senkt sie ihre Stimme. »Seine Frau hat ihn verlassen.«
Ich brauche
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