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Ein Mann zum Abheben

Ein Mann zum Abheben

Titel: Ein Mann zum Abheben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Wright
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staatliche Klinik aufzusuchen, wo die Stühle aus Plastik waren und überall Flugblätter über Geschlechtskrankheiten, häusliche Gewalt und Aids herumlagen. In Ordnung, dachte ich mir, wenn sie wild entschlossen ist, sich mit einer Billig-Abtreibung für neunundachtzig Dollar zu bestrafen, dann sitze ich wenigstens da und warte auf sie. Irgendwann während der Fahrt dorthin drehte sie sich zu mir um und fragte mich: »Woher kennst du den Weg, das ist nicht gerade dein Stadtteil?«
    »Hier habe ich Phil kennengelernt«, erinnerte ich sie.
    »Du hast Phil in einer Abtreibungsklinik kennengelernt?«
    »Natürlich nicht.«
    Ich sagte es zu schnell, meine Stimme klang vor lauter Dementieren zu scharf. Ich holte tief Atem, warf einen Blick auf Tory, die auf dem Rücksitz schlief, und dann einen auf Kellys Profil. »Er arbeitete ehrenamtlich in der Freien Zahnklinik, und meine Mutter hatte mich gebeten, dieses Kind …«
    »Ach richtig, ich erinnere mich.« Sie sprach so undeutlich, als würde sie seitlich von etwas abrutschen. »Die Freie Klinik. Dort hast du den heiligen Phil kennengelernt.«
    Über eine Stunde lang spazierte ich herum, ging auf und ab und wiegte Tory. Endlich sah ich Kelly aus der Tür kommen, blass, eine Flasche Orangensaft umklammernd.
    »Ich will nicht darüber reden«, sagte sie, und ich schnallte Tory in ihrem Kindersitz fest und fuhr uns alle nach Hause. Damals wussten wir nicht, dass es ihre einzige Schwangerschaft bleiben würde.
    Sie litt ein Jahr lang.

    Sie litt so sehr, dass es mir Angst machte. Ich rief sie jeden Morgen an und traf sie fast jeden Tag. Sie passte auf Tory auf, wenn Phil und ich ausgingen, und jedes Mal, wenn sie uns besuchte, brachte sie ihr ein Geschenk mit, völlig unpraktische Kleidchen und Bücher, die eher für eine Zehnjährige geeignet waren. Und dann - ein Jahr nachdem ich sie zur Klinik gefahren hatte - rief sie mich an: »Es reicht.«
    »Gut«, gab ich zurück, »es reicht.«
    »Das Leben ist lang, Elyse.«
    »Ich weiß. Sehr lang. Und wir haben noch eine Menge davon vor uns.«
    »Weißt du, welcher Tag heute ist?«
    »Ja.«
    »Deswegen finde ich, es reicht.«
    Sie hielt Wort. Wir sprachen sehr selten von Daniel, und nach einer Weile schien es fast, als hätten sie und ich eine Art gemeinsame Sinnestäuschung erlebt. Als ich zufällig die Toilette der BP-Tankstelle an der Ecke Providence und Rama Road aufsuchte, sah das Waschbecken wie jedes beliebige Waschbecken in einer Toilette aus. Kelly fand einen besseren Job und dann sogar einen noch besseren. Sie fing an, sich mit anderen Männern zu treffen, Männern mit guten Jobs, Männern, die sie auf exotische Urlaubsreisen mitnahmen. Inzwischen könnte ich, wenn ich es versuchen würde, nicht mehr aufzählen, wie viele es waren, vor allem auch deshalb, weil ich in den meisten Fällen nicht einmal den Namen kannte. Wir hatten grundsätzlich beschlossen, dass ich mir keine Mühe machen musste, den Namen zu erfahren, solange sie sich nicht länger als einen Monat mit diesem Mann traf. Stattdessen hatte ich die Erlaubnis, ihn nur »der Junge« zu nennen. Selbst heute noch nennen wir es »Das Jahr der vielen Jungs«, wenn wir von dieser Zeit sprechen.

    Und dann verkündete sie eines Tages, dass sie Mark heiraten werde. Sie besuchte mich und brachte etwas mit, ein Päckchen, das mit einem Gummiband umwickelt war: Es waren alle Briefe, die Daniel ihr während ihrer Beziehung geschrieben hatte.
    »Verbrenne sie bitte«, ordnete sie an.
    Ich blätterte sie schnell durch und stellte fest, dass es zehn oder sogar zwölf waren, chronologisch geordnet, was mich überraschte. Normalerweise war Kelly nicht so ordentlich.
    »Sieht nicht nach viel aus, oder?«, fragte sie. »Allerdings, wenn ich so darüber nachdenke, habe ich ihn auch nicht sehr lange gekannt.«
    Die Briefe in meiner Hand verursachten mir eine leichte Übelkeit. »Bist du dir sicher, dass ich das machen soll?«
    »Du musst. Ich kann es nicht selber tun.«
    Nachts, als Tory im Bett lag und Phil schlief, stand ich auf und machte Feuer. Eins muss ich ganz deutlich sagen: Ich hatte nie vor, die Briefe zu verbrennen. Das Feuer sollte eine bestimmte Atmosphäre erzeugen. Ich schenkte mir ein Glas Wein ein, streckte mich auf der Couch aus und begann zu lesen.
    Ich hatte Kelly und Daniel mehrmals zusammen getroffen und war Zeugin seines verzweifelten Blickes geworden, mit dem er jede ihrer Bewegungen verfolgte. Weiß Gott, ich hatte jedes Detail ihres Sexuallebens

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