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Ein Mann zum Abheben

Ein Mann zum Abheben

Titel: Ein Mann zum Abheben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Wright
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erfahren, dennoch war ich überwältigt von der nackten Leidenschaft in Daniels Briefen. Dem Humor, der Offenheit, dem Gefühl für die gemeinsame Geschichte, der Art, wie er alles an ihr wahrzunehmen und alles, was sie gesagt hatte, zu erinnern schien. Daniel hat für Kelly alles getan, was ein Mann für eine Frau tun kann - er hat sie umworben und gevögelt, hat sie verehrt und betrogen, aber ich hatte nie den Eindruck gehabt, dass er sie tatsächlich geliebt hat.

    Natürlich erklärte das nicht seine Flucht nach St. Louis oder was immer ihn zum Gehen veranlasst hatte. Es erklärte nicht, warum sie in dieser schäbigen staatlichen Klinik landete oder warum sie jetzt einen Mann heiratete, der in meinen Augen nur Plan B war. Aber je mehr ich las, desto weniger schien es mich zu interessieren, wie die Geschichte der beiden ausging. Natürlich konnte ich die Briefe nicht verbrennen. Das hatte sie immer gewusst. Sie hatte sie dem einzigen Menschen anvertraut, von dem sie wusste, dass er diese Briefe mit dem eigenen Leben schützen würde. Sorgfältig ordnete ich Daniels Briefe wieder in chronologischer Reihenfolge, band sie zusammen und versteckte sie hinten in meinem Kleiderschrank in einer Tasche.
    Gelegentlich nehme ich sie auch heute noch heraus und lese sie. Wenn es spät ist oder wenn ich einsam oder traurig bin. Daniel hatte wunderbar die Regeln des Ehebruchs befolgt - die Briefe enthalten keine Namen und kein Datum -, wodurch sie sich für meine Zwecke herrlich eignen. Mit der Zeit wurde es immer leichter, mir vorzustellen, dass es meine Briefe wären. Mit der Zeit wurde es immer leichter, mir vorzustellen, dass sie jemand für mich geschrieben hatte.
     
    Ein einziges Mal hörte ich noch etwas von Daniel. Wir wurden im selben Jahr am selben Tag geboren, was uns auf seltsame Weise miteinander verband. Er nannte es einmal das Gefühl für ein gemeinsames Schicksal, als wir uns in Kellys Apartment getroffen hatten, um achtundsechzig Kerzen auszupusten, die sie auf einen Geburtstagskuchen gesteckt hatte - einunddreißig für mich, siebenunddreißig für ihn. Wahrscheinlich hätte ich nicht so total überrascht sein dürfen, als er mich ein paar Jahre nach seinem Verschwinden anrief und mir zum Geburtstag gratulierte. Ich fand es derart
grotesk, mit ihm zu sprechen, dass es eine Weile dauerte, bis die Wirklichkeit mich wieder einholte und ich richtig wütend wurde. Wir unterhielten uns, als wäre erst eine Woche seit unserer letzten Begegnung vergangen, und schließlich kam er zur Sache.
    »Geht es ihr gut?«
    »Sie heiratet.«
    Nie werde ich den Ton vergessen, den er daraufhin von sich gab, den Ton eines Tieres, fast ein Heulen. Eine Welle von Wut brandete in mir auf. Ich erzählte ihm, dass sie schwanger gewesen sei, als er sie verließ, ob er das überhaupt wisse? Und dass sie in den Wochen und Monaten, die darauf folgten, dahinvegetiert sei? Und warum er, wenn er sich so verdammt um sie sorgte, einfach gegangen sei?
    Doch dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und fragte: »Liebt sie ihn?«
    »Er kümmert sich um sie.«
    »Danach habe ich nicht gefragt.«
    »Ich finde, du hast das Recht, irgendjemanden irgendetwas zu fragen, verspielt.«
    »Wird sie das wirklich machen?«
    »Wir gehen morgen Dessous einkaufen. Für die Flitterwochen. Er fährt mit ihr nach Paris.« Genaugenommen fuhr er mit ihr nach Vegas, aber ich stellte mir vor, dass Daniel Paris mehr wehtat.
    »Soll ich zurückkommen?«
    »Warum? Hat sich etwas geändert?«
    »Wirst du ihr wenigstens sagen, dass ich dich angerufen habe?«
    Am Hochzeitstag war Tory Kellys einzige Begleitung während der Zeremonie. Vorsichtig schritt sie in ihrem blauen Organzakleid den provisorischen Mittelgang im
Ballsaal des Hotels hinunter und streute ein Rosenblatt nach dem anderen auf den Boden. Ich konnte nicht aufhören, zur Tür zu sehen. Vielleicht war das der Tag, auf den all die romantische Hysterie schließlich hinauslief. Vielleicht würde Daniel wie in jener Szene aus Die Reifeprüfung hereinplatzen, sie auf die Arme nehmen und forttragen.
    Natürlich hat er das nicht getan. Beim Empfang kam Kelly zu mir und sagte: »Jetzt bin ich verheiratet.«
    »Ja, du bist eine von uns.«
    »Es scheint so unwirklich. Wie lange dauert es, bis man anfängt, sich als Ehefrau zu fühlen?«
    »Ich werde es dich wissen lassen.«
    Ich glaube, es war richtig, ihr nichts von Daniels Anruf zu erzählen, obwohl ich meine Entscheidung selbst nach all den Jahren noch immer

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