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Ein Mensch wie Du

Ein Mensch wie Du

Titel: Ein Mensch wie Du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zerstörten Stahlgerippe des weiten Daches auf das Einlaufen des Zuges nach Liblar-Lechenich-Zülpich.
    In dem Zimmer Professor Glatts stand Sandra Belora noch immer verblüfft am Flügel, als Franz Krone schon längst die Musikhochschule verlassen hatte und sinnend am Rheinufer lehnte. Professor Glatt ordnete Noten und klappte den Deckel über die Tastatur des Flügels … Auch er sprach nicht und vermied es, Sandra anzusehen. »Warum haben Sie das getan?« fragte sie nach einer langen Zeit betretenen Schweigens. »Sie wissen so gut wie ich, daß er eine wunderbare Stimme hat!«
    »Das stimmt.«
    »Er wird einer der größten Tenöre werden, die wir je auf der Opernbühne hatten!«
    »Vielleicht. Es steckt in ihm, Frau Belora.«
    »Und Sie schicken ihn weg wie einen dummen Jungen!« Sandra trat näher und stützte sich auf den Hügel. Ihre großen Augen waren dunkel vor Zorn. »Ich verstehe Sie nicht, Professor.«
    Professor Glatt trat an das große Fenster und schob die Gardine zurück. Er sah hinaus auf den Garten, hinunter auf die Wiese, auf der einige Musikschüler saßen und ihre Noten studierten. In einer Ecke des Gartens, vor einem Taxusstrauch, stand ein kleiner, etwas dicker Mann und dirigierte ein unsichtbares Orchester nach der Partitur, die er in der linken Hand hielt.
    »Wilhelm Pligges dirigiert wieder Wagner«, sagte Glatt und lächelte. »In vierzehn Tagen macht er in der Dirigentenklasse seine Prüfung … Man wird ihm Mozart geben, der ihm gar nicht liegt.« Er wandte sich um zu Sandra Belora, die an seine Seite getreten war. »Das ist unser Prinzip, gnädige Frau. Das Leben ist nicht immer ein Spaziergang durch die Gefilde des Angenehmen … Das Wohlgefällige sind die Ausnahmen, die Lichtblicke in dem grauen Hinterhof des Lebens. Wenn Herr Pligges Wagner liebt, muß er bei der Prüfung Mozart dirigieren, denn wenn er Mozart beherrscht, obgleich er ihn gar nicht mag, wird er jeden anderen Komponisten mit Begeisterung und Können dirigieren. Das ist das ganze Geheimnis der Musikpädagogik. Der Künstler muß sich selbst beherrschen können, er muß sich zwingen können, das, war er nicht liebt, mit der gleichen inneren Durchdringung zu gestalten wie die ›Virtuosenstücke‹ seines Könnens. Erst dann – in der vollkommenen Beherrschung seiner selbst – ist er fähig, Leistungen zu vollbringen, die ihn über das Mittelmaß hinausheben.«
    Sandra Belora fuhr mit ihrer schlanken Hand durch die Luft. »Was interessiert mich dieser Herr Pligges! Warum haben Sie den jungen Sänger einfach gehen lassen?«
    Professor Glatt drehte sich lächelnd zu Sandra um, die Augen hinter der schmalen Goldbrille glänzten. »Weil ich bereit bin, an diesen jungen Menschen zu glauben.«
    »Er ist gegangen.«
    »Und er wird wiederkommen.«
    »Das glaube ich nicht.«
    Glatt hob die Schultern. »Das wäre schade. Dann habe ich mich getäuscht. Der Junge geht jetzt durch ein Fegefeuer. Es wird ihn läutern und zeigen, wohin er gehört: in seine Gärtnerei oder auf die Opernbühne. Seine erste Handlung wird die Überwindung des Gestern sein: Ringt er sich durch, für die Kunst seine Gärtnerei zu opfern, wird er ein großer Sänger werden! Der Abbruch der Brücken zwingt ihn, so lange zu schwimmen, bis er das Ufer seiner Sehnsucht erreicht hat. Entscheidet er sich für die Gärtnerei – das wäre schade; aber dann ist es besser so, denn er wäre so nur ein mittelmäßiger Sänger geworden, nicht ein ›Hungriger‹, der singen muß! Die Schwere der Kunst, die Kunst, über das Mittelmaß hinauszuragen, schafft nur der, dem das Leben die Aufgabe gestellt hat: kämpfen – oder untergehen!«
    Sandra Belora schob die Unterlippe etwas vor. Sie spielte mit den Spitzen der Gardine und sah vor sich auf den linoleumbelegten Boden. »Eine merkwürdige Ansicht, Professor. Ich habe nie Hunger gehabt und bin leidlich bekannt geworden.«
    »Sie sind erstens eine Frau und zweitens nicht ein Junge der Kriegsgeneration. In normalen Zeiten kann auch ein Millionär ein bekannter Sänger werden – wenn er die Ideale seines Berufes ernst nimmt –, aber sehen Sie doch diese Jungen an, die heute zu uns kommen. Notabitur … Kriegsschule … Frontbewährung … Offizier … Zusammenbruch, außen und innen … Entwurzelt, hungernd, Bunkertypen, in den entscheidenden Jahren mit Maisgries und Magermilch gefüttert, mit zehn Gramm Fett je Tag und hundertfünfzig Gramm Fleisch in der Woche. Menschenpflanzen, begossen mit destilliertem Wasser, ohne

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