Ein Mensch wie Du
durchfuhr es Krone. »Die Geschworenen stehen hinter dem Richtertisch … Schweigen … Der Richter setzt sein Barett auf … Der Angeklagte sieht zu Boden …«
Die Stimme Professor Glatts riß ihn aus seinen Gedanken empor. Er wandte sich von Sandra ab und trat einen Schritt vor. »Nehmen Sie das Urteil an?« hörte er den Richter sagen, und er war bereit, alles zuzugeben und zu allem ja zu sagen, wenn er nur hier herauskam, hinaus in die Sonne, an den Rhein, an die Luft, die ihn frei werden ließ von allem Druck, der sein Inneres zusammenpreßte. Er würde den Rhein entlang laufen, sich auf eine der Bänke setzen und den Kopf in die Hände legen … Er war müde, so müde, denn er ahnte, daß er versagt hatte, daß er von diesen grauen und strengen Augen hinter der dünnen goldenen Brille keine Gnade zu erwarten hatte.
»Ich gehe ja schon, Herr Professor«, sagte er, ohne die Antwort Glatts abzuwarten. »Und ich danke Ihnen sehr für Ihre Geduld, mich überhaupt angehört zu haben. Ich wollte es ja nicht … Verzeihen Sie …«
»Aber Professor …« Sandra Belora hob beide Arme. »Was soll das? Ich verstehe nicht …«
Glatt erhob sich langsam. »Sie haben eine leidlich gute Stimme. Ohne Zweifel. In drei Jahren könnte man es wagen, Sie den Intendanten vorzustellen. Aber Sie müßten drei Jahre intensiv studieren, an sich feilen, lernen, lernen und noch einmal lernen … Der Preis in der Kunst ist der Lohn des Fleißes. Auch der Begabteste geht unter, wenn er nicht an sich arbeitet. Immer arbeitet. Rastelli übte mit seinen Bällen jeden Tag acht Stunden, ehe er am Abend auftrat. Caruso übte am Tage, bis er in Schweiß gebadet war …« Er wandte sich an Sandra Belora und schoß förmlich auf sie zu. »Und wie langen üben Sie, gnädige Frau?« »Viel, Professor …«, wich die Belora aus. Glatt nickte. »Die Kunst des Gesanges ist die Schwerarbeit unter den Künsten. Wenn Sie wollen, Herr Krone, nehme ich Sie noch mit in das Sommersemester.«
»Gratuliere!« rief Sandra Belora enthusiastisch und drückte Franz Krone die Hand. »Das ist mehr als ein Lob …«
»Danke.« Krone verneigte sich wieder mit der Steifheit, die man ihm anerzog, als er als Neunzehnjähriger Anstandsunterricht auf der Kriegsschule erhielt. »Aber ich kann nicht kommen.«
»Kein Geld?«
»Genau das, Herr Professor. Ich habe eine kleine Gärtnerei bei Liblar … Von meinem Vater geerbt, als letztes Vermächtnis. Ich kann sie nicht im Stich lassen, um später ein mittelmäßiger Tenor zu werden.«
»Sie werden ein guter Tenor!« rief die Belora.
Professor Glatt hob die Schultern. »Die Stipendien sind besetzt … Ich habe keine Gelder mehr. Haben Sie Verwandte, gute Bekannte …?«
»Nein.«
»Können Sie einen Kredit auf die Gärtnerei aufnehmen, eine Grundschuldeintragung, irgend etwas?«
»Das möchte ich nicht. Mein Vater hat die Gärtnerei schuldenfrei an mich übergeben … Ich muß sie frei halten von allen Belastungen.«
»Überlegen Sie es sich. In aller Ruhe. Überschlafen Sie es einmal.«
Er reichte Franz Krone die Hand. Dieser nahm sie, zaghaft, ein wenig verwirrt, und drückte sie leicht. »Sie können jederzeit bei mir anfangen … Überlegen Sie es sich genau. Ich will Ihnen nichts versprechen – aber wenn Sie zu mir kommen, werde ich einen Sänger aus Ihnen machen!«
Franz Krone nickte stumm. Er verbeugte sich vor Sandra Belora und verließ mit schnellen Schritten das große Zimmer. In dem kleinen Warteraum nahm er seine Tasche vom Boden, die noch immer an dem Stuhlbein lehnte. Er drückte sie fest unter den Arm. Es raschelte leise, als er sie an sich preßte … Die Noten, die er verleugnete.
Unten, am Eingang, hielt ihn der Portier fest. Er saß auf seinem Stuhl neben der Treppe und rauchte eine Pfeife. Er rauchte einen schrecklich starken Tabak, der den ganzen Flur mit seinem beißenden Geruch erfüllte. »Durchgefallen?« fragte der Portier, als er die verschlossene Miene Krones sah. »Machen Sie sich nichts draus.« Er legte ihm die Hand wie tröstend auf die Schulter; der Qualm der Pfeife kitzelte Krones Nase. »Hier gingen Männer hinein, die auftraten wie Richard Tauber, und sie kamen heraus wie nicht gar gekochte Fleischwürste! Bei Glatt ist jeder Mensch nur Stimme … Alles andere interessiert ihn nicht. Aber wenn er einen gefunden hat, der ihn interessiert, dann wissen wir alle hier im Bau: Das gibt einen neuen Namen in der Oper!«
Franz Krone nickte abwesend. »Was Sie sagen, ist nett«, meinte
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