Ein Mensch wie Du
an ihn heran, der ihm vorher in der Höhle gegenübergestanden hatte. Auch er war mit Staub überzogen, sein weißes Seidenhemd war aufgerissen, seine Haare hingen verklebt in dem schweißigen Gesicht.
Der Unbekannte nahm die Hand Krones und sagte in einem etwas singenden Englisch, das den Italiener verriet: »Ich danke Ihnen – ich danke Ihnen herzlichst. Ohne Sie wären wir ein Haufen Wahnsinniger geworden, die sich gegenseitig umgebracht hätten. Ihre Stimme hat uns das Leben gerettet.« Er stockte, ehe er weitersprach. »Wer sind Sie, mein Herr?!«
»Franz Krone.«
»Ein Deutscher?«
»Ja.«
»Ich bin Pietro Caricacci. Sie haben eine wunderbare Stimme, aber ich werde den größten Sänger unserer Zeit aus Ihnen machen! Ich lade Sie ein nach Rom in mein Institut.«
Franz Krone hatte ein heißer Schreck durchzuckt, als der Fremde sich als Caricacci vorstellte. Blitzartig kam ihm eine Szene in den Sinn, die er in Köln bei Professor Glatt erlebte. Er hatte einmal ›Bohème‹ gesungen, immer und immer wieder die Arie des Rudolf aus dem ersten Akt. Und Glatt hatte beifällig genickt und gesagt: »Sehr schön, Krone. Hier hört meine Kunst auf. Nur einer könnte noch mehr aus Ihnen machen – Caricacci. Aber den werden Sie nie bezahlen können.«
Caricacci. Der Mann in dem zerrissenen Hemd, mit dem Staubbrei im Gesicht, mit den zerfetzten Hosen, soeben aus einer Höhle gekrochen, die ein großes Grab werden sollte.
»Ich werde das nicht können«, sagte Krone langsam. »Ich …«
Aber Caricacci winkte ab. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich komme morgen zu Ihnen und bespreche alles weitere. Wo wohnen Sie?«
»In Nauplion. Hotel Royal.«
»Ich werde morgen kommen. Sie haben ein Engagement?«
»Ja.« Krone sah zu Boden. Er schämte sich, es jetzt in diesem Augenblick zu sagen. Es würgte ihn die Kehle, aber er stieß es doch hervor wie einen gequälten Schrei: »In einer Jazzkapelle.«
»In einer …« Caricacci biß sich auf die Lippen und sah hinüber zu Gloria, die bei dem verwundeten Mönch kniete und ihm Wasser zwischen die bärtigen Lippen goß. »Wir sprechen morgen darüber! Ich bin um halb vier bei Ihnen im Hotel.« Er gab Krone die Hand und drückte sie fest. »In einer Jazzkapelle«, sagte er leise und schüttelte den Kopf. »Die Menschheit ist nicht nur blind, sie ist auch taub geworden.«
Mit großen Schritten eilte er die Uferstraße entlang. Irgendwo mußte sein Wagen stehen, wenn ihn die Felsen nicht zertrümmert hatten.
Auf einem Felsblock saß der Amerikaner und schrieb einen Scheck aus. Seine Frau stand neben ihm, weinend und immer wieder sein Haar streichelnd. Er schrieb in den Scheck eine hohe Zahl, dann ging er damit zu dem verletzten Mönch und drückte ihm das Papier in die Hand. »Ich halte mein Versprechen«, sagte er leise. »Bruder, bauen Sie zur Ehre Gottes ein neues Kloster.«
Am Ausgang der Höhle, als letzter, stand noch immer der große Italiener, die Pistole in der Hand. Er musterte die Menschen, die zwischen den Felstrümmern standen, er wartete darauf, daß sie sich auf ihn stürzten und ihn der Polizei übergaben. Und er war entschlossen, sich nicht zu wehren; das sah man, wie er die Pistole in der Hand hielt, so als wisse er gar nicht, daß er sie in der Hand trug.
Aber niemand beachtete ihn. Die griechischen Steinbrucharbeiter und Bauern nahmen die Verletzten auf ihre Schultern und schleppten sie der Straße zu, wo vor dem Erdbeben zwei Touristenomnibusse geparkt hatten. Ein Fahrzeug hatte sich von den Bremsen gelöst und war während des Erdbebens die steile Uferstraße hinabgerollt, über die Klippen gestürzt und unten im Gischt des Meeres zerschellt. In den anderen Bus war ein Felsbrocken geschleudert worden, hatte das Dach zerschlagen und lag nun auf den Ledersitzen. Er war sonst nicht beschädigt, und man lud die Verletzten in den Wagen und fuhr sie schnell zurück in die Stadt, in eine halb vernichtete Stadt, unter deren Haustrümmern die Verschütteten wimmerten und die Toten am Rande der Straßen lagen, nebeneinander aufgereiht, mit weißen Laken den Blicken verdeckt. Militär sperrte die ganze Gegend ab, aus Nauplion und Korinth rasten über die Staatsstraße die Wagen der Ärzte heran, die fahrbaren Ambulanzen, die Rettungswagen der Armee und die Zelte der Feldlazarette mit ihren Sanitätern und Militärärzten.
Franz Krone stand neben Gloria an dem kleinen blauen Wagen, der die Naturkatastrophe überstanden hatte. Der Himmel über ihnen war blau, das
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