Ein Mensch wie Du
dann schoß er wieder, zweimal, dreimal, in die anstürmende Menge hinein. Schreien und Stöhnen erfüllte die Höhle, die Taschenlampen erloschen, und in der Dunkelheit brach die Hölle aus und wurde der Mensch zur Bestie, die sich selbst zerfleischt.
In diesem Augenblick der Panik ertönte wie aus einer fremden, fernen, fast schon jenseitigen Welt eine Stimme.
Eine klare, triumphierende, die Weite der Höhle erfüllende und von den Wänden zurückspringende Stimme. Und diese Stimme sang eine Arie, eine Opernarie inmitten grenzenlosen Grauens, umgeben von tierhaft gewordenen Menschen, die nach Luft kämpften und wahnwitzig in die Pistole des Mörders am Eingang rannten. Die Stimme übertönte selbst das Stöhnen der Verwundeten, das hysterische Kreischen des Amerikaners und das jetzt verstummende Murmeln und Singen der Nonnen im Hintergrund der weiten Höhle.
Einen Augenblick war es, als wolle die Hysterie der Menge von neuem ausbrechen, als die Stimme zu singen begann, dann ebbte der Lärm ab, und die Dunkelheit wurde still, nur unterbrochen vom Wimmern der Verwundeten. Die Menschen lauschten, der Schrecken, die irrsinnig machende Angst, der Schrei nach Luft fielen von ihnen, indem sie sich in der Dunkelheit besannen und sich einhüllen ließen in die Töne, die von allen Ecken der Höhle auf sie herniederstürzten.
›Land so wunderbar …‹ aus der ›Afrikanerin‹ von Meyerbeer. Und dann, ohne Pause, die Erschütterung ausnutzend, ›Sei mir gegrüßt, du heil'ge Stätte‹ aus dem ›Faust‹ von Gounod.
Franz Krone stand an der Wand der Höhle, Gloria noch immer umfassend, und sang mit geschlossenen Augen. »Nicht aufhören«, durchfuhr es ihn. »Singen, singen, weitersingen … Du mußt ihnen die Angst nehmen, du mußt sie wieder Menschen werden lassen, du mußt ihnen die Vernunft zurückbringen in diese Gehirne, die verwirrt sind vom Schrecken.« Und während er sang und die Eingeschlossenen schon beruhigter und dann ergriffen seiner Stimme lauschten, arbeiteten am Ausgang ein Dutzend Männer mit nacktem Oberkörper, schleppten die Steine weg, gruben mit den Händen sich durch die Felsen, wälzten riesige Blöcke hinein in die Höhle und wühlten sich hinaus ins Freie, an die Luft, in die Sonne, in das Leben.
Ein Schrei vom Ausgang her unterbrach die Arie. »Licht!« schrie einer der Grabenden. »Wir sehen Licht! Noch eine Stunde, und wir haben es geschafft! Weitersingen!«
Und Franz Krone sang. Er sang italienische Volkslieder, deutsche Lieder, dann wieder eine Arie, ein neapolitanisches Ständchen, den ›Postillon von Longjumeau‹. Die eingeschlossenen Menschen, schwitzend, mit der knapper werdenden Luft ringend, klatschten, als er diese Arie beendet hatte, der Amerikaner hatte sich beruhigt und verband mit dem Franzosen den schwerverletzten Mönch. Noch immer stand der große Italiener an dem von Steinen übersäten Ausgang, aber er hielt die Pistole auf den Boden gerichtet und sah zu, wie die Männer schweißgebadet das Tor zum Leben freigruben. Ein Lichtstrahl fiel in die Höhle, jubelnd begrüßt. Die Männer arbeiteten mit keuchenden Lungen – wo Licht ist, ist auch Luft! Ein schwerer Felsblock fiel in die Höhle. »Vorsicht!« brüllte jemand. Er rollte bis in die Mitte der Höhle und streifte eine Frau, die aufkreischte.
»Wir haben es!« rief jemand vom Ausgang her. »Die Frauen und Kinder zuerst …« Der Italiener hob wieder die Pistole. »Wenn sich ein Mann dazwischendrängt, schieße ich!« sagte er laut. Wieder polterten Steine in die Höhle, der Lichtschein wurde stärker, es war auch, als erneuere sich die Luft, als weiche der Druck von den Lungen und den wild schlagenden Herzen.
Langsam gingen die Frauen an Franz Krone vorbei. Sie nickten ihm zu, sie gaben ihm die Hand, dann krochen sie über die Steine und zwängten sich durch das Loch in die Sonne hinaus, in die herrliche, reine Luft, in der noch der salzige Gischt des Meeres lag.
Als die Frauen und Kinder die Höhle verlassen hatten, wurden die Verwundeten hinausgeschoben, dann folgten sie hintereinander, der Amerikaner, der Franzose, die griechischen Bauern, die Fremdenführer, die Italiener, die Steinbrucharbeiter und als einer der letzten Franz Krone und Gloria, die nicht von seiner Seite gewichen war und es abgelehnt hatte, zuerst mit den Frauen hinauszugehen.
Als Franz Krone hinaus in die Sonne kroch, blinzelnd, verschmutzt, am Ende seiner Kräfte, und sich an den Felsen lehnte, tief, tief Atem holend, trat ein Mann
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