Ein Mensch wie Du
Großhirn, die Kehlkopfmuskeln wieder zu bewegen. Es wird, es muß werden!«
Francesco Corani nickte. Er streckte Dr. White die Hand hin. An dem festen Druck spürte der Arzt, daß Corani ihn verstanden und den Kampf gegen sein Schicksal aufgenommen hatte.
In der Nacht nach der Untersuchung durch Dr. White fuhren Corani, Caricacci, Sandra und Professor Glatt nach Berlin. Sie fuhren zu Dr. Helmut Bornhoff, dem Kehlkopfspezialisten der ehemaligen Charité.
Von diesem Tage an begann eine Jagd um die ganze Erde. Was an Ärzten einen Namen besaß, wer nur ein wenig Hilfe erwarten ließ, den kleinsten, letzten Hoffnungsschimmer nahmen sie wahr und fuhren oder flogen zu den Ärzten, um sie mit Kehlkopfspiegeln, Röntgenapparaten und modernsten Schockgeräten an den Stimmbändern Coranis arbeiten zu lassen.
Nach drei Monaten fuhren nur noch Glatt und Corani weiter von Arzt zu Arzt. Sandra Belora mußte weiter singen. Caricacci kehrte nach Rom in sein Konservatorium zurück. Das Leben ging weiter, die Erde drehte sich weiterhin in vierundzwanzig Stunden um die Sonne, Atombombenversuche in den Bikini-Atollen erschütterten die Menschheit, Unglücke, Überschwemmungen, Katastrophen erregten die Massen, Staatsmänner trafen sich, Verträge wurden geschlossen oder gebrochen, Wahlen veränderten die politische Struktur von Ländern … Nur über den Rundfunk ertönte noch immer ab und zu in einer bunten Opernsendung eine herrliche, eine einmalige Stimme, und der Ansager sprach mit routinierter Stimme: »Sie hörten die Arie des Lyonel ›Ach so fromm‹ aus der Oper ›Martha‹ von Friedrich von Flotow. Es sang Francesco Corani.«
Und das Programm ging weiter … Neue Sänger, neue Namen, neue Erfolge. Nur die Erinnerung blieb an diese Wunderstimme, an diesen Kometen am Himmel der Oper, der emporstieg, seinen Glanz über die Menschheit ausgoß und dann wieder hinabstürzte in die Dunkelheit, aus der er gekommen war und in der ihn niemand wiederfand.
In diesen Tagen der völligen Einsamkeit verwandelte sich der Sänger Corani. Er nannte sich wieder Franz Krone und stand in einem kleinen Garten eines flachen Hauses bei Cattolico und jätete die Beete und band die Rosen fest. Ein Gärtner, der freundlich die Leute grüßte und ihnen zunickte, wenn sie an seinem Garten vorbeigingen …
Wer von dem alten, sagen- und heldenumwobenen Sparta die breite Staatsstraße südwärts fährt, kommt bei dem Orte Gythion an das Mittelmeer, an den herrlichen Lakonischen Golf. Das Land ist hier gebirgig; der 2.407 m hohe St. Elias reckt seine Grate in den blauen Himmel, an dem die weißen Wolken landeinwärts ziehen wie riesige Schiffe, die von Afrika kommend das weite Meer durchfahren haben. Von Gythion etwa 10 km weiter im Süden des Peloponnes liegt das Dorf Ageranos, hingeduckt auf einen schmalen, ebenen Küstenstreifen, angelehnt an das Bergmassiv, das hinunterreicht bis zum Kap Tänaron, von dem aus man den großen Leuchtturm der Insel Kythira durch die Nacht kreisen sieht.
Hier, südlich von Ageranos, auf einem Felsen über dem brausenden Meer, lag ein weißes Haus mit weiten Gärten, Weinreben, Ölbäumen und Jasminsträuchern wie eine Oase inmitten einer rauhen Landschaft. Ein steiler Weg führte zu dem Haus hinauf und endete vor einem Tor, hinter dem der Weg, mit weißem Kies bestreut, weiterging, um sich hinter hohen Maulbeerbäumen zu verlieren. Nur das Dach des weißen Hauses sah man von diesem Tor aus, das auch von der Seeseite her nur zu einem Teil sichtbar wurde. Es lag ganz in den weiten Garten gebettet, abgeschlossen von der Außenwelt – eine Einsiedelei voll duftender Blumen und blühender Büsche.
Die Bauern von Ageranos waren stolz auf dieses Haus. Es gehörte früher dem Großgrundbesitzer Sokrates Pallidides, dessen Ländereien fast ganz Taygetos umfaßten: Weingüter, Ölbaumplantagen, Orangenhaine, Gärtnereien und einige Steinbrüche. Er hatte in diesem weißen Haus auf der Höhe wie ein kleiner König regiert, er war in Gythion ebenso bekannt wie in Sparta oder gar Athen, wo er ein Handelsbüro für seine Exportgeschäfte besaß. Jetzt lebte er an der Riviera, nicht weit von Cattolico entfernt, in einem Sanatorium, von dem aus er seine weiten Handelsbeziehungen mit Telefon und Kurieren weiterführte.
Das weiße Haus auf dem Hügel bei Ageranos aber hatte er vermietet. An einen Sänger, der seine Stimme plötzlich verloren hatte und der sich verkriechen wollte in die Einsamkeit des südlichen Peloponnes.
Franz
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