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Ein Mensch wie Du

Ein Mensch wie Du

Titel: Ein Mensch wie Du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Dreieck!« Er sah die Anwesenden an und verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Das ist leicht erklärlich: Die Innervation der Kehlkopfmuskeln erfolgt vom Gehirn aus bilateral – mit anderen Worten: Die beiden Großhirnhemisphären sind die Leitwerke des Kehlkopfes. Durch einen Nervenschock – auch durch große seelische Belastungen, verbunden mit einer physischen Überbelastung des Organismus und vor allem des Kehlkopfes – erlahmen die Nerven der Glottisöffner. Zurück bleibt, weil die Großhirnhemisphäre nicht mehr arbeitet, eine völlige Aphonie und ein Stillstand der Stimmbänder.«
    Caricacci starrte Dr. White an, als habe er seine Worte nicht vernommen. »Soll das heißen …?« stotterte er verwirrt.
    Dr. White nickte. »Wir wollen in diesem Augenblick kein Theater spielen und die Wahrheit hinter schönen Worten verbergen: Die Lähmung ist endgültig. Der Herr Kammersänger wird nie wieder singen können!«
    »Nein!« schrie Sandra Belora auf. Sie umklammerte Corani und drückte sein Gesicht an ihre Brust. »Das kann nicht wahr sein … Das ist doch unmöglich … Sie müssen sich irren …«
    Dr. White hob bedauernd die Schultern. »Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Wir müssen uns alle damit abfinden. Es wird durch Elektroschocks möglich sein, die bloße Sprechstimme wahrscheinlich zu erlangen – wenn auch in einer sehr heiseren Form –, aber singen? Ich darf sagen: Es ist unmöglich!« Er sah Corani an, der zum Schweigen verurteilt seinen Worten zugehört hatte. »Es klingt hart, was ich Ihnen sage, Herr Kammersänger.«
    Dr. White trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Aber warum soll ich Ihnen die Wahrheit nicht sagen? Es ist besser, das Leiden mit Bewußtsein zu tragen, als ständig in der Dunkelheit der Vermutungen und der unerfüllbaren Hoffnungen herumzutasten.«
    Eine Schwester in weißer Haube kam durch die breite Glastür des neben dem Untersuchungszimmer liegenden Vorbereitungsraumes herein und räumte die Instrumente zusammen, um sie in einem Sterilkocher auszukochen. Sie sah mit verwunderten Augen auf den noch immer auf dem Untersuchungsstuhl sitzenden berühmten Sänger und nickte ihm freundlich zu. Ein leises, fast schmerzliches Lächeln huschte über die Züge Coranis.
    »Sie weiß es nicht«, dachte er. »Sie hat keine Ahnung, daß hier ein Stummer sitzt, ein Geschlagener, eine tote Stimme.« Er erhob sich und gab Dr. White, der vor ihm stand, die Hand. Er wollte etwas sagen, aber bevor er den Mund öffnete, fiel ihm ein, daß ihn keiner hören würde und die Worte nur Klang in seinem Gehirn waren, nicht aber in seiner Kehle. Er ging zu dem Tisch und nahm dort Bleistift und Papier. Mit schnellen Bewegungen schrieb er etwas auf das Blatt und betrachtete es dann. »Das wird von jetzt an meine einzige Verbindung zur Welt sein … Papier und Bleistift«, dachte er. Mit einem wehmütigen Lächeln reichte er den Zettel Dr. White. »Ich danke Ihnen sehr«, stand darauf. »Ihre Ehrlichkeit erleichtert mir das Ertragen der Krankheit. Was soll ich tun?«
    Dr. White las den Zettel und zerknüllte ihn zwischen den Fingern. In dieser Bewegung lag die Hilflosigkeit des Arztes vor diesem schrecklichen Schicksal. »Ruhe«, sagte er stockend. »Vor allem Ruhe! Und dann die Schockbehandlung in einem guten Institut. Mehr können wir nicht tun …«
    Professor Glatt schluckte. Die Zunge war ihm schwer. Hinter seinen blitzenden Brillengläsern schimmerte es feucht, es war fast, als unterdrückte er ein Weinen. »Darf er in den Süden fahren?« fragte er mühsam beherrscht.
    »Das wäre sogar das beste.« Dr. White zog seine Jacke an, die Schwester verschwand mit den Instrumenten im Nebenraum. Als sie die Tür öffnete kam Geruch von Äther und Lysoform in das Zimmer. Sandra würgte und wandte sich ab. »Die Riviera ist am besten. Oder Capri, San Remo, überhaupt die ganze Mittelmeerküste. In Genua ist ein sehr gutes Krankenhaus, wo die Schocktherapie durchgeführt werden könnte.«
    Caricacci biß sich auf die Lippen. »Und wie lange – wie lange wird es dauern – bis er wieder sprechen kann?«
    »Das hängt von seinem Willen ab.« Dr. White wandte sich zu Corani. »Sie müssen den Willen haben zu sprechen. Sie dürfen nie den Glauben aufgeben, doch wieder einmal zu sprechen. Üben Sie, Herr Kammersänger … Üben Sie jede Stunde, jede Minute, sagen Sie immer: ›Ich will sprechen. Ich muß sprechen! Ich kann sprechen.‹ Überwinden Sie den seelischen Schock. Zwingen Sie Ihr

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