Ein Mensch wie Du
zur Festigung des Herzens gegeben.
Sandra Belora sang noch immer. Allein auf der großen Bühne stehend, angestarrt von zweitausend Menschen, sang sie tapfer und mit Tränen in den Augen ihr Programm herunter.
Neben dem Ruhebett saß jetzt ein anderer Mann bei Corani. Er sah stumm zu Caricacci hinüber, der mit zerwühlten Haaren immer wieder den Kopf schüttelte, als könne er die schreckliche Wahrheit nicht begreifen.
»Sie haben ihn überfordert, Herr Kollege«, sagte der alte Mann und streichelte die herabhängende Hand Coranis. »Sie haben ihn gejagt wie einen Rennwagen, von Rekord zu Rekord. Aber das hier ist ein Mensch, und seine Stimme ist ein Geschenk Gottes. Das haben Sie vergessen, Professor Caricacci.«
Der alte Mann legte die Hand auf Coranis Brust und deckte den lang hingestreckten Körper mit einer Decke zu.
»Was nun?« fragte der alte Mann.
Caricacci hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, Professor Glatt«, sagte er kläglich. »Meine ganze Hoffnung ist Dr. White.«
Professor Glatt winkte ab. »Haben Sie schon einmal gesehen, daß man eine beiderseitige totale Recurrenslähmung heilen kann? Sie belügen sich ja selbst, Caricacci …«
»Ich weiß, ich weiß.« Caricacci legte wieder die Hände vor die Augen. Er weinte.
Erschüttert und wütend zugleich ging Professor Glatt in dem großen Zimmer hin und her. Ab und zu warf er einen Blick auf den schlafenden Corani. Der Theaterarzt trat ein; er schloß leise die Tür wie bei einem Schwererkrankten.
»Dr. White kommt in einer Stunde … Er fliegt mit einer Militärmaschine«, sagte er. Seine Stimme klang wie befreit.
Professor Glatt antwortete nichts. Er blieb stehen und sah aus dem verhängten Fenster hinaus in die dunkle Nacht. Es schneite wieder, dicke Flocken tanzten vom Himmel und überzogen das Land mit einem weichen, weißen Samt.
Durch die Tür klang Musik.
Sandra Belora sang mit der letzten Kraft ihre Schlußarie. Körbe voll Blumen warteten auf sie in der Seitenkulisse. Darunter ein Strauß roter Rosen, mit einem Band aus Seide umwickelt.
»Dem größten Sänger unserer Tage von zehn seiner Bewunderer.« Das Begräbnis einer nie wiederkehrenden Stimme …
Dr. James White legte den Kehlkopfspiegel zur Seite und ging an das Waschbecken. Er wusch sich gründlich die Hände, ehe er sich umdrehte und die anderen Anwesenden in dem weißgetünchten, hellen Untersuchungszimmer ansah.
Dr. White war ein großer, hagerer Mann Ende der Fünfzig, mit grauen Haaren, die er kurz geschnitten trug, und einem altmodischen Eckenkragen. Seine Haltung war etwas nach vorn gebeugt, was ihn älter erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war. Auch seine etwas gelbliche Haut, die aussah und sich anfühlte wie abgelagertes Pergament, gab ihm den Ausdruck eines alten Sonderlings, wenn man seine Augen nicht genau betrachtete. Diese Augen waren eigentlich das einzig Lebendige und Strahlende an diesem Arzt, in diesen Augen sammelte sich die Energie, und sie ließen dem ersten Eindruck entgegen eine Persönlichkeit erkennen, deren Urteil man sich unbedenklich unterordnen konnte.
Francesco Corani saß auf einem Stuhl unter einer starken Lampe und hatte die Hände ineinander verkrampft. Caricacci und Sandra Belora standen neben ihm, während Professor Glatt am Fenster gegen die Scheiben trommelte. Eine fast körperhafte Spannung lag über dem Raum, mit Zündstoff geladen.
Dr. White zuckte mit den Schultern.
»Eine beiderseitige totale Recurrenslähmung mit völliger Aphonie.« Seine Stimme war tief und dunkel. »Die Laryngoskopie hat ergeben, daß die Stimmbänder in einer Kadaverstellung stehen, das heißt, daß die Stimmbänder vollkommen stillstehen in einer Mittelstellung zwischen Respirations- und Phonationsstellung.«
Professor Glatt sah zu Corani hinüber. An seinen Augen sah er, daß dieser die Diagnose verstanden hatte: »Für immer stumm!« Er atmete tief auf und schüttelte den Kopf.
»Wie ist das bloß möglich?« sagte Professor Glatt schwach. »Wie konnte das vorkommen, Dr. White?«
Der Arzt warf das Handtuch, mit dem er sich die Hände abgetrocknet hatte, auf einen kleinen Tisch und sah zu Corani hinüber, der schwer atmend auf seine Antwort wartete.
»Die Lähmung ist – wie wir sagen – eine sogenannte ›hysterische Lähmung‹. Sie entsteht durch große psychische Erregungen – das beweist das plötzliche Auftreten und laryngoskopisch der unvollkommene Schluß der Glottis bei dem Versuch der Phonation. Die Glottis bildet dann ein
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