Ein Mensch wie Du
sie eine Erscheinung, ein Wesen somnambuler Träume. Er öffnete die Lippen, er vergaß seine Stummheit. Er streckte die Hände vor und schrie ihren Namen. Man sah, daß er es schrie, aber kein Ton kam über seine Lippen, sie zitterten nur, und der Hals schwoll an. Da öffnete Greta die Arme und stürzte auf ihn zu, hing sich an seinen Hals und küßte ihn. Er umfaßte sie und drückte sie an sich, so fest und impulsiv, daß sie nach Luft rang und ihn doch immer wieder küßte, seinen Namen nennend und ihm mit der kleinen zärtlichen Hand, die er einmal so liebte, über das hagere, zerfurchte, leidvolle Gesicht streichelnd.
»Professor Glatt sagte, du hättest ihm geschrieben, ich solle kommen«, sagte sie später, als sie sich am Fenster gegenübersaßen und hinaus auf den Strand und das abendliche Mittelmeer blickten. Es leuchtete in der untergehenden Sonne wie eine polierte Kupferscheibe, durchsetzt mit Ornamenten aus Segelbooten und bunten Wimpeln an weißen oder grünen Zelten. Franz Krone nickte. Er schrieb auf seine Tafel: »Professor Glatt hat recht … Ich habe nach dir verlangt, aber glaubte nicht, daß du kommen würdest. Ich habe dir so weh getan.«
»Nicht mehr davon sprechen.« Greta wischte mit der Hand über die Tafel. »So wie diese Schrift wollen wir alles wegwischen, was gewesen ist. Beginnen wir mit einer reinen Tafel.« Sie nahm den Griffel aus Krones Hand und schrieb in großen Buchstaben, die ganze Tafel ausfüllend: »Ich liebe dich!«
Am nächsten Morgen kaufte Franz Krone eine neue Tafel. Die alte legte er wie eine Kostbarkeit in den Schrank, die Schrift Gretas mit einem Papier bedeckend, damit sie nicht verwischt würde. Sie wurde für ihn das Wertvollste, das er besaß.
Drei Wochen später heirateten Franz Krone und Greta Sanden auf dem Standesamt in Genua und in der schönsten Kirche von San Remo. Über einen Teppich von Rosen und Nelken schritten sie zu ihrem Wagen, der sie zurückbrachte nach Cattolico.
Am übernächsten Tag verließen sie Italien und das Blumenmeer der Riviera. Ein weißes Schiff der griechischen Mittelmeerflotte, die ›Agamemnon‹, brachte sie von Genua nach Athen, um Italien herumfahrend, an Sizilien vorbei und entlang der zerklüfteten Küste des Peloponnes, ihrer zukünftigen Heimat.
Die Bauern von Ageranos sahen das junge Ehepaar gern. Wenn sie – meistens an den kühleren Abenden – von ihrem Hügel herunterstiegen und am Meer spazierengingen, untergefaßt, eng aneinandergeschmiegt, nahmen sie teil an diesem Glück und lächelten sich zu. »Etwas anderes als der dicke Sokrates«, sagten sie. »Wenn wir Pallidides trafen, wollte er immer Geschäfte mit uns machen und unsere Felder aufkaufen … Aber dieser Deutsche, dieser arme, stumme Mann mit der schönen blonden Frau hat für uns alle ein Nicken und sitzt oft in Gythion im Café und trinkt eine Karaffe süßen Samos. Ein armer Mensch – wir wollen für ihn beten …«
Mit der anderen Welt hatten Franz und Greta keinerlei Verbindung mehr, nur Professor Glatt schrieb ab und zu und berichtete aus Köln; Caricacci schrieb aus Rom und erzählte lang und breit von seinem Glauben, daß Corani wieder singen werde. Nur Geduld solle er haben. Geduld und den festen Willen. Die Heirat mit Greta Sanden ignorierte Caricacci – nie ließ er Greta in seinen Briefen grüßen, noch beglückwünschte er Krone zu seinem neuen Glück. Aber er war auch so taktvoll, nichts mehr von Sandra zu schreiben. Ab und zu las Krone in alten französischen oder italienischen Zeitungen, die in dem Café von Gythion auslagen, daß Sandra Belora in Kanada und zuletzt sogar in der Großen Oper von Moskau Triumphe feierte und zusammen mit Ettore Constantino einen neuen Film drehen würde über das Leben der großen Sängerin Melba.
Krone las es wie jede andere Meldung, ja er freute sich ehrlich über die Erfolge Sandras, obwohl er ihren plötzlichen Bruch mit ihm nie ganz verstehen konnte. Noch in Hannover, bei der Untersuchung Dr. Whites, hatte sie ihn umarmt und ihm Trost zugesprochen, hatte sie ihn nach Hause begleitet und ihm immer wieder gut zugeredet; aber als dann nach den Untersuchungen in Rom, Berlin, London, New York und Montreal feststand, daß Krone nie wieder singen konnte, war sie plötzlich aus seinem Leben verschwunden, wie sie aufgetreten war, ohne Aufhebens, ohne großen Abschied. »Ich fahre zu einem Gastspiel nach Neapel«, hatte sie lediglich gesagt – und von diesem Gastspiel war sie nie wiedergekommen, sondern
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