Ein Mensch wie Du
sich herum. »Sie müssen das Programm retten!« sagte er mit zitternder Stimme. »Singen Sie Ihre Arien hintereinander … Bis dahin weiß ich, was Herr Corani hat! Schnell auf die Bühne! Singen Sie, gnädige Frau, singen Sie!«
Verzweifelt trat Sandra wieder in den Lichtkegel, der ratlos auf der Bühne kreiste. Der Dirigent klopfte ab. Eine neue Melodie erklang, die ›Tosca‹ Puccinis.
In die aufgeregten Menschen hinein perlte die Stimme der Belora, beruhigend, glättend, aufs neue ergreifend.
Und während sie sang, rannte Caricacci durch den langen Gang und stieß vor Coranis Garderobe mit dem Theaterarzt zusammen, der von der anderen Seite herbeigelaufen kam.
Corani lag auf dem Sofa neben dem Schminktisch, bleich, hager, mit geschlossenen Augen, den Mund fast verkrampft. Caricaccis Haltung fiel bei diesem Anblick endgültig zusammen, er stürzte auf ihn zu und fiel vor dem Sofa auf die Knie.
»Francesco!« schrie er. »Mein Junge, was hast du denn?! Franco … Francessino …« Er tastete mit der Hand über Coranis Gesicht. Es war feucht; kalter klebriger Schweiß bedeckte es über und über.
Der Theaterarzt hatte sich neben Corani auf das Sofa gesetzt und fühlte seinen Puls. Dann schüttelte er den Kopf und beugte sich zu ihm vor. »Herr Kammersänger?« fragte er leise.
Corani nickte. Er öffnete die Augen und sah den Arzt ängstlich und mit flatternden Augen an.
»Was fehlt Ihnen denn?« Der Arzt ergriff Coranis Hand. Sie war schlaff, schweißig und kalt wie bei einem Toten. »Haben Sie einen Schwächeanfall gehabt?«
Corani öffnete den Mund. Seine Lippen bewegten sich. Er sprach, aber keiner hörte, was er sagte; ein Krächzen, ein mißtönendes, klägliches, fast tierhaftes Krächzen war alles, was zwischen seinen Lippen herauskam.
»Francesco …«, stammelte Caricacci. Er flog am ganzen Körper, das Gräßliche, das Unaussprechbare, das Unfaßliche wollte er nicht glauben.
Der Arzt lehnte sich zurück, auch er war blaß geworden. Er ließ die Hand Coranis los, sie fiel auf seine Brust. Es war, als spräche er wieder, seine Hand hob sich, er zeigte auf seinen Hals und deutete durch eine Geste ein völliges Unvermögen an.
Caricacci starrte auf ihn. Die Lippen bewegten sich, der Kehlkopf zuckte. Corani sprach … Er sprach, und keiner vernahm einen Ton …
»Heilige Maria!« schrie da Caricacci auf. Er warf die Hände vor sein Gesicht und sank nach vorn. Haltlos weinte er und lag mit seinem Kopf neben der Schulter Coranis.
Das Schreckliche hatte ihn erfaßt. Es warf ihn nieder und zerstörte alles in ihm, was er in seinem langen Leben erbaut hatte.
Der Arzt tastete mit zitternden Fingern über den Hals Coranis; es war eine sinnlose Bewegung, ohne Zweck, ohne Nutzen. Schwach lächelte ihn Corani an. Seine Lippen bewegten sich; er sagte etwas, tonlos, völlig tonlos … Da wandte sich auch der Arzt ab, um seine Erschütterung zu verbergen.
Corani war stumm geworden. Die größte Stimme der Welt erlosch im Augenblick ihres höchsten Triumphes.
Für alle Zeiten wurde sie in diesem Augenblick nur eine Erinnerung, festgehalten auf Schallplatten und Magnetophonbändern des Rundfunks.
Eine Stimme war gestorben.
Unterdessen sang Sandra Belora, ohne zu wissen, welche unheimliche Tragödie sich hinter der Bühne abspielte, mit jubelnder Stimme die große Abschiedsarie der Butterfly.
Und während sich vor der Garderobe Coranis die Reporter der Zeitungen drängten und von dem heraustretenden Caricacci etwas erfahren wollten, während der Generalintendant mit versteinertem Gesicht am Lager Coranis saß und seine Hände wie bei einem kranken, hilflosen Kind hielt, telefonierte der Theaterarzt mit Dr. James White in London, dem berühmtesten Kehlkopfspezialisten Europas.
»Es ist schrecklich«, sagte er mit belegter Stimme. »Mitten im Konzert. Ohne Zweifel eine Stimmbandlähmung. Kurz nach dem hohen C! Wir sind alle aufs tiefste erschüttert. Wann dürfen wir Sie hier erwarten?«
Mit einem Aufklärungsflugzeug der britischen Luftwaffe flog eine Stunde später Dr. White von London nach Hannover. Ihm voraus eilte aber bereits an alle Nachrichtenbüros der Welt die Meldung, die von Millionen fast ungläubig gelesen wurde: »Der weltberühmte Sänger Francesco Corani hat seine Stimme verloren! Die Ärzte sagen: ›Er wird nie wieder singen können!‹«
Corani lag noch immer in seiner Garderobe. Er schlief. Der Theaterarzt hatte ihm eine Beruhigungsinjektion gemacht, außerdem hatte er ihm Cardiazol
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