Ein Mistkerl zum Verlieben
eingeschlafen waren. Wenn sie bald darauf erwachten, im Gänsemarsch in ihren Schlafanzügen mit Pferden, Barbiepuppen und Comicfiguren darauf die breite Treppe hinunter tappsten, die von der Galerie im ersten Stock in das große Wohnzimmer führte, in dem der Baum stand. Sie erinnerte sich an das Geschenke-auspacken im Kreise der Familie, die Essen und die gemütlichen Nachmittage, die man entweder draußen im Schnee oder vor dem Kamin, bei einem Gesellschaftsspiel und einer Tasse Tee verbrachte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie sich an das Feuerwerk zu Neujahr erinnerte, an das feudale Abendessen an Sylvester und an die Geburtstage ihrer Großmutter. Ja, das Haus in Aspen war die letzte Brücke in ihre unbeschwerte Kindheit, die übrig geblieben war.
Als Vickys Großvater starb, behielt die Familie die Weihnachtspartys in Aspen zwar bei, doch es war nicht mehr dasselbe. Es kam Vicky beinahe falsch vor, zu versuchen, genauso glücklich und unbeschwert in Aspen zu feiern, obwohl ihr Großvater nicht dabei sein konnte. Doch die Welt drehte sich weiter und in den Jahren darauf hatten mehr und mehr Familienmitglieder ihre Teilnahme an den Weihnachtsferien abgesagt. Vicky hätte sich niemals träumen lassen, dass auch sie einmal darüber nachdenken würde, nicht in das große Herrenhaus am Fuße der Aspen Mountains zu fahren. Doch in diesem Jahr spukte genau dieser Gedanke in ihrem Kopf herum. Nach allem, was erst mit Mark und schließlich auch noch mit Nick passiert war, war ihr nicht im Geringsten zum Feiern zumute. Noch dazu, wo sie vermutlich jeder nach Mark fragen würde.
"Und du willst wirklich nicht nach Aspen fahren?" Ungläubig starrte Kelly sie an. Die beiden Frauen saßen in Vickys Appartement, aßen Pizza und hatten sich zwei Filme aus der Videothek geholt. Seit sie sich kannten, war es Vickys oberste Priorität, an Weihnachten in Aspen zu sein.
"Ich hab zumindest nicht die geringste Lust dazu", antwortete Vicky und biss von ihrer Pepperonipizza ab.
"Wegen Mark, richtig?"
Vicky seufzte und wusste, dass es keinen Sinn machte, zu leugnen, dass es wegen Mark war.
"Ja, auch. Aber nicht nur. Ich meine, ich habe mich damit abgefunden, dass ich keine Beziehung mit ihm haben werde", sagte sie nach einer Weile, fast um sich vor Kelly zu rechtfertigen, "aber ich hab einfach keine große Lust, immer und immer wieder danach gefragt zu werden, wo er steckt, wie es ihm geht und warum wir nicht zusammen sind. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, etwas zu verändern. Ich dachte zwar, ich würde jedes Weihnachtsfest in Colorado verbringen, aber die Zeiten ändern sich eben. "
"Ach Vicky!" Kelly wirkte mitleidig, "du hattest diesen Mistkerl wohl ziemlich gern, was?"
"Ja, sieht fast so aus!"
Eine Weile sagten beide nichts und starrten still auf den Fernseher.
"Du solltest trotzdem fahren", meinte Kelly nach einer Weile.
"Was?"
"Nach Aspen. Du solltest nach Aspen fahren. Ich finde, du hattest in letzter Zeit soviele Troubles, dass es dich bestimmt ablenkt, dort zu sein, wo du immer glücklich warst. Es ist einfach eine fixe Beständigkeit in deinem Leben, der Aufenthalt in Aspen. Du liebst das Haus und das Weihnachtsfest doch. Und du liebst die Zeit, die du mit deiner Familie verbringen kannst. Meinst du nicht, dass du es noch mehr bereuen würdest, wenn du nicht fahren würdest?"
"Ich weiß nicht. Kann schon sein. Aber ich fühle mich einfach gar nicht dazu imstande, zu feiern. Ich weiß gar nicht, ob ich im Moment überhaupt glücklich sein kann . Viel lieber würde ich mich hier im Appartement einschließen und das alles aussitzen!"
Kelly blickte Vicky wieder aus mitleidigen Augen an.
"Überleg es dir trotzdem. Fahr. Spring über deinen Schatten. Und wenn du es gar nicht aushältst, dann nimmst du einfach das nächste Flugzeug zurück nach New York!"
Vicky hatte es sich überlegt und war nach Aspen geflogen. Flug Nummer 6823 der United Airlines landete planmäßig um zwölf Minuten nach drei am Pitkin Airport, der wie immer um diese Jahreszeit verschneit und klirrend kalt dalag. Als die Maschine die Landebahn entlang rollte, fiel Vicky ein, dass sie noch niemals im Sommer in Aspen gewesen war und beschloss, dies in den nächsten Monaten einmal nachzuholen.
Schon aus der Maschine heraus hatte sie die weißen Spitzen der Aspen Mountains gesehen, das Land, das mit einer pudrig-weißen Schneedecke überzogen war. Am Tower des Flughafens war ein überdimensional großer
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