Ein mörderischer Sommer
ich sie«, sagt sie lächelnd; er nickt. Sie legt eine Herz-Acht ab. »Eine Acht, Großvater, willst du eine Acht?« Er schüttelt den Kopf. »Nimm eine Karte«, fordert sie ihn sanft auf. Irgend etwas ist los. Sie spielen jetzt ein anderes Spiel.
Sie sieht zu, wie seine Hand mit den hochliegenden Adern eine Karte vom Talon nimmt. Er hält sie sich vor die Augen und betrachtet sie, als ob sie ein seltsamer Gegenstand wäre. »Willst du diese Karte, Großvater?« fragt sie. Sie will sich nicht eingestehen, daß er sie gar nicht mehr sieht. Er zieht die Schultern hoch. »Dann leg sie ab«, sagt sie, und er tut es. »Das ist die Pik-Drei, Großvater. Bist du sicher, daß du sie nicht brauchen kannst?«
Er schüttelt den Kopf und starrt sie verwundert an.
»Nun, dann nehme ich sie«, redet sie trotzig weiter, während sie die Karte aufhebt. »Und gebe dir dafür den Herz-König. Großvater, willst du den König?«
Sie starrt ihn an. Der lange Hals schmiegt sich in das Kissen, die Augen fallen dem alten Mann zu. »Großvater!« schreit sie. Noch einmal reißt er kurz die Augen auf. »Bitte, Großvater. Bitte, laß mich nicht allein, ich brauche dich!«
Mit zitternden Händen schiebt sie die Karten zusammen und verstaut sie in der alten Schachtel. Einige Sekunden lang steht sie am Fuß des Betts, dann kurbelt sie den Kopfteil in seine ursprüngliche Lage zurück. Sie nimmt die Hand ihres Großvaters und ist erstaunt, wie leicht sie sich anfühlt.
»Bitte, wach wieder auf, Großvater«, fleht sie, obwohl sie genau weiß, daß er nicht aufwachen wird. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich habe dich angelogen. Du hast mich gefragt, wie es Paul geht, und ich sagte, es gehe ihm gut. Ja, es geht ihm gut … bloß, er ist weg. Das habe ich dir schon einmal erzählt. Ich habe dir erzählt, daß er mich verlassen hat … Aber ich habe immer geglaubt, er würde zurückkommen. Ich habe geglaubt, ich brauchte nur zu warten und ihm Zeit zu lassen. Ich liebe ihn so sehr, Großvater. Zwanzig Jahre lang war er alles für mich. Jetzt will er ein neues Leben, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht einmal mehr, wer ich bin. Kannst du das verstehen? Alles löst sich auf. Ich verliere meine Kinder, sie werden erwachsen. Sie entfernen sich von mir. Und Eve … erinnerst du dich an Eve? Du weißt schon, die, die rechts und links immer verwechselt. Also, irgend etwas stimmt nicht mit Eve. Irgend etwas ist los mit ihr. Sie ist überzeugt davon, sterbenskrank zu sein. Sie war schon bei tausend Ärzten. Sie sagen, alles sei in Ordnung, aber sie akzeptiert das nicht. Sie benimmt sich so sonderbar. Ich kann es nicht richtig erklären. Dreißig Jahre lang war sie meine beste Freundin, und plötzlich weiß ich nicht mehr, wer sie ist. Ich vertraue ihr nicht mehr. Ich habe Angst vor ihr!« Von den eigenen Worten erstaunt, hört Joanne einen Moment lang auf zu sprechen. »Das habe ich noch nie laut gesagt. Ich glaube, ich habe es bis jetzt noch nicht einmal gedacht. Aber es stimmt. Ich habe Angst vor ihr. Ich bekomme diese Telefonanrufe, Großvater, entsetzliche, perverse Anrufe. Eine Stimme droht mir, mich umzubringen. Und letzte Woche bin ich nachts in den Garten gegangen, und da hörte ich diese Stimme, sie rief meinen Namen, und ich bekam solche Angst, ich dachte, jetzt ist er da und bringt mich um … Aber es war Eve! Es war ihre Stimme! Und das war irgendwie schlimmer als alles, was ich erwartet hatte. Ich kann nicht vergessen, wie sie mich angeschaut hat! Ich habe Angst, Großvater, Angst, daß Eve es war, die mich ständig angerufen hat! Ich habe Angst, daß sie mir weh tun will! Ich bin so durcheinander, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll! Bitte, hilf mir, Großvater!«
Langsam schlägt er die Augen auf. »Möchtest du mit mir tauschen?« fragt er freundlich.
Joanne läßt sich auf den Stuhl neben dem Bett fallen. Seine Worte dröhnen ihr in den Ohren.
Plötzlich ist das Zimmer von Lärm erfüllt: »It's a long way to Tipperary!« grölt Sam Hensley im Nachbarbett.
Wie gelähmt sitzt Joanne bei ihrem Großvater. Sie fühlt sich wie der Bestandteil eines surrealistischen Gemäldes, irgend etwas von Dali oder Magritte. »It's a long way to Tipperary …«
Möchtest du mit mir tauschen?
»To the sweetest girl I know …«
»Linda?« fragt ihr Großvater, von dem plötzlichen Lärm irritiert.
»It's a long way to go …«
»Linda?«
Joanne steht auf, beugt sich hinunter und küßt ihren Großvater
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