Ein mörderischer Sommer
durchblättert fieberhaft ihr Adreßbuch, bis sie Brians Büronummer gefunden hat. Mit zittrigen Händen wählt sie die Nummer, verwählt sich bei der letzten Ziffer, wählt noch einmal von vorn.
»Sergeant Brian Stanley bitte«, sagt sie dem Polizeibeamten am anderen Ende der Leitung.
»Er ist gerade nicht da. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Wer spricht denn da?«
»Officer Wilson.«
»Ich muß mit Sergeant Stanley oder seinem Vorgesetzten sprechen«, erklärt Joanne.
»Das wäre Lieutenant Fox.«
»Gut. Kann ich bitte mit ihm sprechen?«
»Einen Augenblick.«
Eine andere Stimme meldet sich, tiefer als die erste. »Lieutenant Fox am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«
»Hier spricht Joanne Hunter. Ich bin die Nachbarin von Brian Stanley.«
»Ja?« Er wartet, daß sie weiterspricht.
»Ich bekomme seit einiger Zeit Drohanrufe, und Brian, Sergeant Stanley, sagte mir, er werde mit Ihnen darüber sprechen, ob es nicht möglich wäre, daß ein Streifenwagen mein Haus im Auge behält. Nun habe ich nie irgendeinen Polizeiwagen gesehen, und gerade habe ich wieder einen Drohanruf erhalten. Wahrscheinlich ist es nichts Schlimmes, aber ich hätte gerne gewußt, wann denn das letztemal die Polizei hier vorbeigefahren ist …«
»Langsam, langsam, bitte. Sie sagten, Sergeant Stanley hat Ihnen gesagt, er hätte mich gefragt, ob wir Ihr Haus durch einen Streifenwagen im Auge behalten könnten?«
»Na ja, er sagte, er würde Sie fragen, aber das ist schon eine Weile her … Vielleicht hat er es vergessen, oder vielleicht hatte er keine Zeit dazu.« Sie verstummt für ein paar Sekunden. »Ihnen gegenüber hat er nie etwas erwähnt?« fragt sie. Aber sie kennt die Antwort bereits.
»Wie war doch gleich Ihr Name?« fragt der Lieutenant, während Joanne den Hörer auflegt.
»Ich heiße Joanne«, sagt sie.
26
»Schmeckt köstlich, Joanne. Vielen Dank.«
Brian Stanley lächelt ihr über den Küchentisch hinweg zu. Er sieht aus, als habe er mindestens fünf Pfund abgenommen und sei um zehn Jahre gealtert, seit Joanne das letztemal hier war. Er ißt gerade das letzte Stück von dem Himbeer-Pie, den Joanne am Nachmittag gebacken und den Stanleys gebracht hat.
»Genau das, was du brauchst.« Eve lächelt und läßt ihre Stimme ganz cool klingen. »Cholesterin.«
»Für den Teig habe ich Vollkornmehl genommen«, sagt Joanne. »Und nur halb soviel Zucker, wie im Rezept angegeben.«
»Wie rücksichtsvoll!« bemerkt Eve sarkastisch.
»Hör auf, Eve«, sagt Brian matt.
»Ach, dieses tolle Bullengehabe. Finde ich großartig. Du nicht, Joanne?«
Joanne starrt auf ihren Teller. Das kleine Stück Pie, das sie sich selbst genommen hat, liegt immer noch unberührt da. Sie hat keinen Appetit. Warum ist sie heute abend überhaupt hierhergekommen? Warum hat sie sich in diese Situation gebracht?
»Es war sehr nett von dir, an uns zu denken«, sagt Brian, als ob er ihre Gedanken erraten hätte. »Ich liebe Himbeeren.«
»Du liebst doch alles, was dich an Blut erinnert«, fährt Eve dazwischen.
»Ich mag Himbeeren auch sehr gerne«, sagt Joanne. Sie ist entschlossen, ein normales Gespräch aufrechtzuerhalten. »Das waren schon immer meine Lieblingsfrüchte. Sie sind nur leider sehr teuer …«
»Sollen wir dir für den Pie etwas zahlen?« fragt Eve.
»Eve, um Gottes willen!«
»Na los, Brian«, fährt Eve fort, »bitte meine Mutter um ein bißchen Geld!«
»Herrgott, Eve!« ruft Brian und schlägt mit der Gabel an den Rand seines Tellers.
»Ich gehe jetzt wohl besser …«, sagt Joanne zögernd.
»Bitte, bleib«, fleht Brian sie an.
»Ja, bitte, bleib«, äfft Eve ihn nach. »Wir brauchen dich. Oder etwa nicht, Brian?«
Joanne starrt ihre Freundin an. Sie erkennt die Frau, die sie den größten Teil ihres Lebens gekannt und geliebt hat, kaum wieder. Genau wie Brian, hat auch Eve abgenommen, und ihre Gesichtszüge, die früher so attraktiv waren, sind jetzt ganz spitz. Das rote Haar, das schon lange aus dem schicken Schnitt herausgewachsen ist, paßt nicht zu diesem Gesicht. Die grünen Augen strahlen nicht mehr wie früher. Eve sieht so hart und unwirsch aus, wie sie klingt. Die vertraute Freundin ist zu einer Fremden geworden.
»Hattest du diese Woche noch Untersuchungen?« fragt Joanne mit größter Anstrengung.
»Hatte ich diese Woche noch Untersuchungen?« wiederholt Eve schneidend. »Was geht dich das an? Du bist doch zur Zeit viel zu sehr mit deinem eigenen Arzt beschäftigt, um dich noch um mich zu
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