Ein mörderischer Sommer
die Augen öffnet, sehen sie sie immer noch direkt, ja fast schelmisch an. »Hast du Zeit, ein bißchen Rommé mit mir zu spielen?« fragt er.
Joanne schreit auf vor Freude.
»Ist hier drin alles in Ordnung?« ertönt eine Stimme vom Gang. »Ach, hallo, Mrs. Hunter«, sagt die Schwester, als sie Joanne erkennt. »Ich habe Sie heute gar nicht erwartet. Geht es Ihrem Großpapa gut?«
»Haben Sie Spielkarten hier?« fragt Joanne hastig.
»Spielkarten?«
»Für Gin Rommé, wissen Sie. Karten«, wiederholt Joanne.
»Ich glaube, Ihr Großpapa hat welche in der Schublade«, sagt die Schwester nach kurzem Nachdenken. »Ich habe hier mal welche rumliegen sehen. Schauen Sie mal in der Schublade nach. Wenn da keine sind, versuche ich welche aufzutreiben.«
»Hier sind sie«, ruft Joanne und zieht eine Schachtel mit speckigen alten Karten aus der Schublade. »Ich habe sie.«
»Sie sehen heute sehr gut aus, Mr. Orr«, sagt die Schwester, geht auf den alten Mann zu, nimmt seine Hand und fühlt ihm den Puls. »Sehr schön«, sagt sie und blinzelt Joanne zu. »Viel Spaß, ihr beide. Besiegen Sie sie nicht allzu oft, Mr. Orr!«
Noch bevor Joanne die Karten auf der schmutzig-weißen Bettdecke ausgeteilt hat, ist die Schwester verschwunden. Joannes Hände zittern. Zu aufgeregt, um sich richtig konzentrieren zu können, ordnet sie ihre Karten.
Sie kann nichts anderes denken, als daß sie tatsächlich mit ihrem Großvater Karten spielt. Und plötzlich ist sie wieder zehn Jahre alt, und sie sitzen an dem runden Tisch im Wohnzimmer des kleinen Häuschens ihrer Großeltern. Draußen strömt der Regen. Wenn das Fenster offen ist, kann sie die Blätter im Wind rascheln hören. Sie riecht den Grasduft, hört das Pfeifen des in der Ferne vorbeifahrenden Zugs.
An den Wochenenden, wenn die Männer aus der Stadt zurückgekehrt sind, vermischen sich die Sommerdüfte mit einem anderen Geruch – dem von Alkohol, den ihr Großvater sich nach dem Rasieren in Unmengen ins Gesicht schüttet. Wegen dieses Geruchs fühlt Joanne sich, anders als die meisten Menschen, anders als Eve, in Arztpraxen und Krankenhäusern so wohl.
Der gespenstische Klang des pfeifenden Zugs und der scharfe Geruch von Alkohol – das gibt ihr Sicherheit. Sie denkt an Paul – dünne Ärmchen und Allergien. Seltsam, in was man sich alles verlieben kann.
»Nimmst du die Karte?« fragt ihr Großvater ungeduldig.
Joanne merkt, daß sie einige Sekunden lang die Herz-Zwei angestarrt hat, ohne zu registrieren, um welche Karte es sich handelt. »Nein«, sagt sie. Sofort denkt sie, daß sie die Karte hätte nehmen sollen. Zu spät. Schnell nimmt ihr Großvater sie und legt eine Karo-Sieben ab. Gewissenhaft sieht Joanne ihre Karten durch, um sicherzugehen, daß sie die Karo-Sieben nicht brauchen kann. Dann nimmt sie eine Karte vom Talon. Es ist die Pik-Zehn. Sie ordnet sie zwischen die Acht und den Buben derselben Farbe ein. Jetzt braucht sie die Neun.
Ihr Großvater kneift vor Konzentration die Augen zusammen. Er nimmt eine Karte vom Talon, legt sie schnell ab und beobachtet, wie Joanne dasselbe macht, greift nach der nächsten Karte, die sie abgelegt hat, beobachtet, wie sie seine abgelegte Karte nimmt. Joanne betrachtet, was sie in der Hand hält. Eine einzige Karte fehlt ihr noch zum Gin – die Pik-Neun. Sie überlegt, ob sie eine Karte, die sie eigentlich braucht, ablegen soll, um das Spiel in die Länge zu ziehen und ihren Großvater gewinnen zu lassen, damit er noch mehr Auftrieb bekommt. Und sie selbst auch.
»Gin!« ruft ihr Großvater plötzlich und zeigt voller Stolz seine Karten vor. Ungläubig starrt Joanne ihn an. »Du hast geglaubt, ich würde dir die hier geben, was?« fragt er verschmitzt und hält ihr seine Gin-Karte, die Pik-Neun, vor die Nase.
»Ich kann es nicht glauben«, sagt Joanne verblüfft. Dann fragt sie ihn: »Meinst du, du schaffst das ein zweites Mal?«
»Ich versuch's«, antwortet er.
Das nächste Spiel geht genau wie das erste aus. »Gin!« ruft ihr Großvater, aber seine Stimme klingt jetzt etwas schwächer.
»Noch eins, Großvater?« fragt Joanne.
»Teil die Karten aus«, sagt er leise.
»Wir können auch aufhören, wenn du dich ein bißchen ausruhen möchtest.«
»Teil aus!«
Joanne gibt jedem zehn Karten. Schnell sortiert sie ihre, merkt dann, daß ihr Großvater nichts dergleichen tut. »Die Pik-Vier, Großvater«, sagt sie und wendet den Blick von der offenen Karte. »Willst du sie?« Er schüttelt den Kopf. »Dann nehme
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