Ein mörderischer Sommer
nacht nicht geschehen lassen sollen«, fährt er fort, »aber ich wollte, daß es geschieht – und sei doch mal ehrlich, Joanne, du wolltest es doch auch. Wir sind erwachsene Leute, die sich einig waren …«
»Was soll das heißen?«
»Daß das, was letzte Nacht geschehen ist, nichts ändert«, wiederholt er. »Daß ich noch nicht soweit bin, wieder nach Hause zu kommen.«
»Letzte Nacht …«
»Ändert nicht das geringste.«
Joanne beginnt hektisch in ihrer Handtasche herumzuwühlen. »Ich kann meine Schlüssel nicht finden.«
»Es war nicht meine Absicht, dich irrezuführen.«
»Warum hast du mir das alles dann nicht gesagt, bevor wir miteinander ins Bett sind?« Sie wirft ihre Handtasche auf den Boden. Sie bleibt neben den Taschen mit den Sachen liegen, die die Mädchen nicht mehr brauchen. Wie passend! denkt Joanne. Sie hört, wie ihre Stimme vor Zorn schrill wird. »Ich kann meine Schlüssel nicht finden!« Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
»Joanne …«
»Laß mich in Ruhe!«
»Ich kann dich doch nicht einfach weinend hier auf der Treppe lassen, mein Gott.«
»Dann such meine Schlüssel, dann heule ich drinnen. Dann mußt du nicht zuschauen.«
»Joanne …«
»Such meine Schlüssel!« kreischt sie.
Paul hebt die Handtasche auf und kramt darin herum. Innerhalb von Sekunden hat er die Hausschlüssel gefunden und reicht sie Joanne. »Du hast den alten Schlüsselbund also wiedergefunden«, sagt er gedankenverloren.
Joanne reißt sie ihm aus der Hand und starrt die Schlüssel an, die sie schon lange verloren zu haben glaubte.
»Es ist ein Wunder, daß du da drin überhaupt irgend etwas findest«, sagt er in dem Versuch, witzig zu sein.
Hilflos stochert Joanne mit dem Schlüssel im Schloß herum. Plötzlich spürt sie Pauls Hand auf ihrer Hand. Er dreht den Schlüssel für sie um. Sie hört ein Klicken, fühlt, wie die Tür aufschwenkt. Sie steht in der Tür. Er zieht seine Hand zurück. Sie ist unfähig, sich zu bewegen. Auftrag ausgeführt, denkt sie, höchste Zeit für einen sauberen Abgang.
»Mußt du jetzt nicht die Alarmanlage abstellen?« fragt er.
Wie ein Roboter geht Joanne zum Alarmkästchen, während Paul die diversen Taschen ins Haus trägt.
»Es tut mir leid, Joanne«, bittet er sie um Verzeihung, als klar wird, daß sie nicht gewillt ist, irgend etwas zu sagen, das ihm den Abschied erleichtern könnte. »Ich rufe dich an«, sagt er kleinlaut.
Joanne sagt nichts. Sie wartet, bis sie ihn wegfahren hört; dann stößt sie mit dem Bein die Tür zu.
25
Als Joanne das Zimmer betritt, schläft er gerade.
Joanne starrt auf das alte Gesicht, auf den welken Körper der von der schmutzig-weißen Bettdecke vollständig verhüllt ist. Neben ihm auf dem Kissen liegt die Baseballmütze mit dem Schriftzug New York Yankees; auf dem eiförmigen Kopf wachsen nur einige wenige weiße Haare. Sie setzt sich neben den schlafenden alten Mann.
An einem Montag war sie noch nie da. Seit drei Jahren hat sie dieses Zimmer immer nur samstags betreten, wenn die Gänge mit den Angehörigen der Patienten voll waren. Sie hätte nicht geglaubt, daß es hier unter der Woche so still ist. Heute kommt es ihr ganz besonders ruhig vor. Außer den Schritten der Pflegeschwestern und einem gelegentlichen Schrei in einem der Krankenzimmer ist kaum ein Geräusch zu hören. Obwohl es noch nicht einmal ein Uhr mittags ist, schlafen die meisten der alten Heiminsassen. Sie ist in ihrer Mittagspause hierhergekommen. Ron sagte ihr, sie solle sich den Rest des Tages freinehmen, solle sich so viel Zeit lassen, wie sie brauche.
Er hatte nur einen einzigen Blick auf ihre roten, verschwollenen Augen werfen müssen, um zu wissen, daß sie geweint hatte. Sprich dich aus, sagte er und führte sie aus dem überfüllten Wartezimmer in den einzigen Untersuchungsraum, der noch leer war. Ihr Zuspätkommen sprach er mit keinem Wort an, fragte sie nur, was denn los sei. Sie brach in Tränen aus und erzählte ihm alles, was zwischen Paul und ihr vorgefallen war. Dann wartete sie darauf, daß er irgend etwas sagte. Statt dessen nahm er sie in die Arme und hielt sie fest. Nimm dir den Rest des Tages frei, drängte er sie. Ich komme schon zurecht. Da fingen sie beide an zu lachen. Also gut, gab er hastig zu, ich würde ohne dich nicht zurechtkommen – mach dir einfach eine verlängerte Mittagspause. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.
Aber beim Mittagessen brachte sie nichts hinunter, konnte nicht schlucken, konnte den
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