Ein mörderischer Sommer
Nichts hat sie, denkt sie, schlurft barfuß ins Wohnzimmer und plumpst auf das große, bequeme Sofa, das Paul und sie erst vor vier Jahren gemeinsam gekauft haben. Sofort ist ihr Körper umgeben von dem warmen Sonnenlicht, das in Streifen durch die Jalousien an den Südfenstern hereinscheint. Vor kurzem hat sie jede dieser weißen Metalleisten einzeln gesäubert, sie hat auch die verschiedenen Böden geputzt, bis sie glänzten, die Möbel poliert, daß sie sich darin spiegeln konnte, die Teppiche mit dem Staubsauger bearbeitet, bis sie wie neu aussahen, das Silber geputzt, bis ihre Hände wund waren. Ihre Tiefkühltruhe ist vollgestopft mit Pies, die sie in den letzten Wochen gebacken hat – für den Fall, daß Paul beschließt, nach ihrem Begräbnis ein paar Leute zu sich einzuladen. Sie lacht zynisch und überlegt, wann sie diesen ausgesprochen schwarzen Humor eigentlich entwickelt hat.
Karen Palmer hat ihr vorgeschlagen, eine Weile zu verreisen. Fahr nach Europa, hat sie gesagt. Aber Joanne hat immer davon geträumt, Europa gemeinsam mit Paul zu besichtigen, und der Gedanke, ganz allein loszufahren, behagt ihr nicht. Sie will ihre Erlebnisse mit jemandem teilen, will jemanden haben, mit dem sie sich am Abend bei einer Pizza oder bei Pommes frites unterhalten kann, mit dem sie lachen kann, der ihr hilft, Dinge zu sehen, die sie alleine vielleicht nicht gesehen hätte. Wenn sie in ein anderes Land zu fliehen versucht, wird sie sich nur noch einsamer fühlen, glaubt sie.
Eve gegenüber hat sie eine mögliche Reise angesprochen. Natürlich nicht über den ganzen Sommer, zwei Wochen nur, nur sie beide, Mädchenferien, vielleicht nicht einmal weiter als Washington oder in die Berge. Aber Eve ist bei mehreren Ärzten angemeldet, das wird sich bis Ende August hinziehen, und außerdem sei sie nicht in der Verfassung für eine Reise, hat sie gesagt.
Es gibt niemand anderen, mit dem Joanne verreisen möchte, niemanden, dem sie sich nahe fühlt, außer ihrer Familie und ihrer ältesten Freundin. Jetzt ist diese Freundin krank, und ihre Familie ist weg. Joanne überlegt, wie den Mädchen das Sommerlager in diesem Jahr wohl gefallen wird, vor allem wie Robin zurechtkommen wird. Sie grübelt darüber nach, ob die Entscheidung, Robin ins Lager zu schicken, richtig war oder nicht, und kommt zu dem Schluß, daß es jetzt sinnlos ist, weiter darüber nachzudenken. Was geschehen ist, ist geschehen. In vier Wochen ist Besuchstag, bis dahin wird sie ein Urteil über die Richtigkeit ihrer Entscheidung gefällt haben. Wenn sie dann noch am Leben ist, denkt sie und preßt ihren Hinterkopf gegen das Sofa. »Wer hätte das gedacht?« fragt sie laut. Sie versucht zu entscheiden, was sie mit dem Rest des Tages anfangen soll.
Sie könnte in den Club gehen, aber welchen Sinn hätte das? Sie denkt an Steve Henry. Die letzten beiden Stunden hat sie abgesagt, sie war nicht gewillt oder nicht fähig, die Zweideutigkeit seiner kürzlich gemachten Bemerkungen wegzustecken. Was will er eigentlich von ihr?
Offensichtlich ist ihm zu Ohren gekommen, daß ihr Mann sich von ihr getrennt hat, und vielleicht hat er sich daraufhin gedacht, sie sei ein leichter Aufriß. Die einsame geschiedene Frau mittleren Alters. Leichter zu befriedigen als die jungen, mit denen man es heutzutage zu tun hat. Dankbar statt kritisch, hocherfreut über alles statt anspruchsvoll.
Das Telefon beginnt wieder zu klingeln. Joanne springt auf, wie sie es bei dem einst so willkommenen Geräusch jetzt immer tut. Zweimal hat sie ihre Nummer ändern lassen, aber er hat Joanne wieder ausfindig gemacht. Sieben kurze Tage lang hat Ruhe geherrscht – eine Woche, in der sie spürte, wie ihr Körper sich entspannte, wie ihre Ängste nachließen –, und dann haben die Anrufe von neuem begonnen, aggressiver und beleidigender als zuvor, wenn das überhaupt möglich war. Ob sie glaube, sie könne ihm so leicht entwischen? fragte er. Ob sie glaube, sie habe es mit einem Idioten zu tun? Ändern Sie Ihre Nummer, so oft Sie wollen, höhnt er, beauftragen Sie doch einen Antwortdienst. Ich werde Sie immer wieder finden!
Joanne geht in die Küche. Sie bleibt vor dem Telefon stehen, bis das Klingeln aufhört. Dann nimmt sie den Hörer von der Gabel und wählt hastig Eves Nummer. Eve ist sofort dran, als ob sie Joannes Anruf erwartet hätte.
»Wie geht es dir?« fragt Joanne.
»Wie immer«, antwortet Eve. In ihrer Stimme schwingt der ganze Ärger mit, den sie über ihren Zustand empfindet.
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