Ein mörderischer Sommer
Problemen zugewandt. Den kurzen Disput zwischen Joanne und Simon Loomis, dessen Zeugen sie geworden sind, haben sie wahrscheinlich bereits vergessen. Würde auch nur einer von ihnen fähig sein, ihn der Polizei zu beschreiben, wenn das notwendig werden würde? überlegt sie. Sie öffnet ihre Handtasche, die sie unter den Schreibtisch gestellt hatte, nimmt Lulus Briefe heraus und liest sie schnell noch einmal durch. »Hi, Mom. Das Lager ist toll. Das Essen ist miserabel. Die Kinder in meiner Hütte sind in Ordnung, außer einer, die glaubt, sie ist eine Prinzessin, Sie tut uns einen großen Gefallen damit, daß sie mitmacht. Das Wetter ist super. Nur eben das Essen ist miserabel. Schick Fressalien! Ich habe mein neues T-Shirt zerrissen. Robin scheint Spaß zu haben, obwohl wir nicht viel miteinander reden. Wir sehen uns am Besuchstag. Schick Fressalien! Alles Liebe. Lulu. P.S. Wie geht es Dir? Viele Grüße an Dad.«
»Viele Grüße an Dad«, liest Joanne noch einmal, nimmt den Hörer auf und drückt schnell die entsprechenden Tasten, bevor sie es sich wieder anders überlegen kann. »Paul Hunter«, sagt sie der Telefonistin. »Paul, hier ist Joanne«, meldet sie sich hastig, sobald sie verbunden ist. Sie will nicht riskieren, daß er glaubt, es sei jemand anderer.
»Wie geht es dir?« Er klingt so, als sei er froh, daß sie sich mal wieder meldet. »Ich wollte dich heute anrufen.«
»Ja?«
»Ich habe heute morgen einen Brief von Lulu bekommen.«
»Ich auch«, sagt sie schnell, um ihre Enttäuschung darüber zu verbergen, daß dies vielleicht der einzige Grund ist, weshalb er sie anrufen wollte. »Genauer, ich habe drei bekommen. Sie kamen alle gleichzeitig.«
»Sie scheint sich zu gut zu amüsieren – außer über das Essen.«
»Hat sie dir das auch geschrieben?«
»Wir können ihr ja ein paar Sachen mitbringen, wenn wir rauffahren. Und von Robin noch nichts?«
»Nein. Du auch nicht?«
»Nein, aber Lulu schreibt, daß alles in Ordnung ist mit ihr.«
»Ja.« Joanne lächelt. »Genau dasselbe hat sie mir auch geschrieben.« Es folgt eine Pause.
»Bist du in der Arbeit?« fragt er schließlich.
»Ja. Es war heute sehr viel los hier.«
»Hier auch. So, ich muß jetzt …«
»Paul?«
»Ja?«
Joanne zögert. Was wird sie jetzt sagen? »Möchtest du dieses Wochenende zu mir zum Abendessen kommen? Entweder Freitag oder Samstag abend, wann es dir besser paßt.«
Noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hat, fühlt sie das Unbehagen, das ihre Worte am anderen Ende der Leitung hervorgerufen haben. »Tut mir leid, ich kann nicht«, sagt er leise. »Ich fahre übers Wochenende raus aus der Stadt.«
»Oh.« Allein? Ich wette, daß du nicht allein fährst.
»Aber wir sehen uns ja am Sonntag darauf, beim Besuchstag im Ferienlager …«
»Ja, klar. Ist schon gut.«
»Ich rufe dich an.«
Joanne legt auf. Erst dann merkt sie, daß sie vergessen hat, sich von ihm zu verabschieden.
Warum bin ich hier? fragt sie sich, während sie ihren Wagen in eine Lücke auf dem Parkplatz des Fresh Meadows Country Club fährt. Was soll ich jetzt tun? Sie steigt aus dem Auto und geht am Clubhaus entlang zu den Tennisplätzen hinüber. Es ist fast sechs Uhr abends. Ist er noch da? Was mache ich hier?
Alle Plätze sind besetzt. Auf dem ersten spielen zwei Frauen mit einer Sicherheit, die Joanne verblüfft. Wie können Frauen nur so sicher sein? Sie beobachtet, wie sie sich konzentrieren, in die Knie gehen, mühelos den Ball treffen, in gleitenden Bewegungen durchziehen. »Aus!« ruft eine von ihnen. Der Ball ist ganz klar innerhalb des Feldes aufgeschlagen.
Joanne sagt jedoch nichts, sondern läßt ihren Blick zum nächsten Platz wandern. Gemischtes Doppel mit unterschiedlichen spielerischen Fähigkeiten. Ein Mann tadelt seine Frau gerade wegen eines unnötigen Fehlers: »Wenn du schon jeden Ball verziehst, dann bring ihn wenigstens übers Netz!«
Joanne geht hinter dem Maschendrahtzaun weiter zum dritten Platz, wo vier Frauen wild drauflosschlagen. Sie sieht, daß keine von ihnen gut spielt, und denkt, in diese Gruppe würde sie gut passen. Sie lachen und haben ihren Spaß, schlagen fröhlich wieder und wieder daneben. Die Mühe, zu zählen, machen sie sich erst gar nicht. »Jetzt aber mal ernsthaft«, schreit eine von ihnen immer wieder, aber sie lacht genauso wie die anderen, und Joanne vermutet, daß dies das Ernsthafteste ist, was die vier zustande bringen.
Er beobachtet sie vom letzten Platz aus; sein Blick folgt
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