Ein mörderischer Sommer
gefiel ihr nicht, wie er sie anstarrte, und irgend etwas an seiner Stimme war ihr unheimlich. Du bist albern, tadelt sie sich sofort und versucht sich auf die vor ihr liegenden Rechnungen zu konzentrieren.
Es war eine ruhige Woche, denkt sie, während sie langsam die Papiere auf ihrem Schreibtisch ordnet. Ihr Bruder, Warren, rief am Sonntag an und fragte, wie es ihr gehe. Am selben Nachmittag rief Paul aus demselben Grund an. Er war freundlich und warmherzig. Daß sie sich am Abend zuvor gesehen hatten, erwähnte er gar nicht. Er sagte auch nichts darüber, ob sie sich vor dem Lager-Besuchstag noch einmal sehen würden. Heute morgen hat sie drei Briefe von Lulu bekommen. Von Robin hat sie noch immer nichts gehört, aber Lulu berichtet, daß ihre Schwester Spaß zu haben scheint. Vielleicht hat Paul einen Brief von ihr erhalten; vielleicht sollte sie ihn anrufen …
Sie legt die Hand auf den Telefonhörer und übt im Geiste ihre ersten Worte: Hallo, Paul, ich dachte mir, es interessiert dich sicher, daß wir endlich Post bekommen haben. Sie will den Hörer schon abheben, da beginnt das Telefon zu klingeln. »Hallo, hier Praxis Dr. Gold«, sagt sie hastig. Wieder eine Bitte um einen Termin. »Es tut mir leid, die nächsten zwei Monate über ist kein Termin bei Dr. Gold mehr frei. Gut, danke schön, auf Wiederhören.« Sie legt den Hörer auf, beschließt, Paul doch nicht anzurufen, und versucht sich auf die vor ihr liegenden Rechnungen zu konzentrieren. Aber jetzt sieht sie Paul in dem leeren Stuhl ihr gegenüber, sieht, wie eine junge Blondine sich vorbeugt und ihm etwas ins Ohr flüstert, hört Warren fragen, wie er sie letzten Sonntag gefragt hat: Seit wann geht das so, Joanne?
Ich weiß nicht, wie lange das so geht, hat sie ihm gesagt. So lange wie nötig, nehme ich an.
Wieder klingelt das Telefon. »Praxis Dr. Gold.«
»Mrs. Hunter …«
»Mein Gott!« Joanne schreckt auf. Sie weiß, daß sie jetzt auflegen müßte, aber ihre Hand ist wie gelähmt.
»Sie sehen gut aus in letzter Zeit, Mrs. Hunter«, teilt die krächzende Stimme mit.
»Wie haben Sie mich gefunden?« flüstert sie.
»Ach, Sie sind so leicht ausfindig zu machen, Mrs. Hunter. Bei Ihnen ist es bis jetzt am einfachsten gewesen.«
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Ich habe Sie doch schon seit längerem in Ruhe gelassen. Ich wollte nur nicht, daß Sie glauben, ich hätte Sie vergessen oder das Interesse an Ihnen verloren … wie Ihr Mann. Oder etwa nicht, Mrs. Hunter? Hat Ihr Mann sich etwa nicht ein anderes Liebchen zugelegt?«
Joanne schmettert den Hörer auf die Gabel.
»Wird's dir zuviel?« fragt ihr Chef, der gerade hereingekommen ist, mit hochgezogenen Augenbrauen.
»So ein Verrückter«, erklärt sie ihm. Sie versucht sich zu fassen. Wie hat er sie nur gefunden?
»Meine Frau bekommt solche Anrufe in letzter Zeit öfter. Ich glaube, jeder bekommt sie.«
»Was für eine Art Verrückter ruft bei deiner Frau an?« fragt Joanne neugierig.
»Willst du Details hören?« Er lacht. »Das Übliche.« Er beugt sich zu ihr herab und flüstert ihr heiser zu: »Nichts Originelles, die übliche Fick-Blas-Routine. Sehr langweilig! Meine Frau mag es gern pervers. Was soll ich sagen? Ich habe Glück!« Er sieht sich um. »Was ist aus unserem Charming Boy geworden?«
»Keine Ahnung. Plötzlich war er weg. Er ist erst in einer Stunde dran.«
»Wahrscheinlich hat ihn der Witz, den ich erzählt habe, abgeschreckt. Ich muß mir mal ein paar neue zulegen. Wo sind die Benzyl-Peroxid-Proben?«
»Raum zwei, unterste Schublade.«
»Da habe ich schon nachgesehen. Nichts.«
Joanne stößt ihren Stuhl zurück, steht auf und folgt dem Doktor in Raum zwei. Sie kniet sich hin – ihr Rocksaum wandert dabei über ihre Knie hinauf –, öffnet die unterste Schublade und stöbert einige Sekunden lang darin herum. Als sie ihre Hand wieder herausnimmt, ist diese mit kleinen Probepäckchen Benzyl-Peroxid gefüllt.
»Wie konnte ich sie bloß übersehen?« fragt er, während sie ihm die Päckchen gibt.
»Du mußt deine Augen aufmachen. Manchmal mußt du sogar noch etwas anderes aufmachen.«
»Jetzt klingst du wie meine Frau. Und die klingt wie meine Mutter.« Er lächelt. »Aber du hast die hübschesten Beine.«
»Ron, geh wieder an die Arbeit«, mahnt Joanne scherzhaft. »Susan Dotson wartet auf dich.«
»Ach ja, Susan Dotson, meine Lieblingspatientin! Die ist ganz verrückt nach mir!«
Als Joanne an ihren Schreibtisch zurückkehrt, steht Simon Loomis
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