Ein mörderischer Sommer
wir Sie bitten. Kinderkrankheiten, Medikamentenallergien, solche Dinge. Name, Dienstgrad, Seriennummer«, fügt sie hinzu, aber er lacht nicht. »Hier haben Sie einen Kugelschreiber.«
»Hab' selber einen«, sagt er, setzt sich wieder hin und zieht einen Filzstift aus der Tasche seines Hemds.
Joanne widmet sich wieder ihrer Arbeit. Das Telefon klingelt; sie nimmt den Hörer ab. »Praxis Dr. Gold.« Wieder fühlt sie die Augen des Jungen auf sich gerichtet. »Ja, Renee. Wann ist das passiert? Okay, ich schaue mal im Terminkalender nach. Okay, wie wäre es mit morgen um eins? Ich schiebe Sie schnell rein, dann kann er Sie sich mal ansehen. Okay, Wiedersehen.« Joanne sieht wieder zu Simon Loomis hin. Der starrt sie immer noch an. »Brauchen Sie Hilfe bei einer der Fragen?« Er schüttelt den Kopf. Der Stift in seiner Hand ist immer noch ungeöffnet.
Aus dem Behandlungszimmer tritt Ronald Gold, gefolgt von einem etwa vierzehnjährigen Mädchen, dessen Gesicht mit Wattebäuschen gesprenkelt ist und das Tränen in den Augen hat. »Tut mir leid, daß ich dir weh tun mußte, Kleine«, sagt er und legt dem Mädchen tröstend den Arm um die Schulter. »Verzeihst du mir das?« Trotz der Tränen gelingt ihr ein Lächeln. »Gib Andrea einen Termin in sechs Wochen. Das wird schon wieder, Mrs. Armstrong«, beteuert er der ängstlich wirkenden Frau, die sich gerade von ihrem Stuhl am Fenster erhoben hat und jetzt beschützend neben ihrer Tochter steht. »Was soll ich Ihnen sagen? Die Pubertät! Da muß jeder durch.« Er deutet auf Joanne. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen«, sagt er. »Ihre Haut war eine Katastrophe, das können Sie sich überhaupt nicht vorstellen. Durch ihre Haut wurde ich überhaupt dazu angeregt, diesen Beruf zu ergreifen! Und jetzt – sehen Sie nur, was für eine Schönheit aus ihr geworden ist! Das ist ein Grund, weshalb ich sie angestellt habe. Na, wie kommst du zurecht?« fragt er und blinzelt Joanne zu.
»Renee Wheeler hat angerufen. Sie hat eine Art Furunkel …«
»Iiih, Furunkel – hasse ich!« ruft Ronald Gold aus. Die kleine Andrea Armstrong bricht in lautes Lachen aus.
»Ich habe ihr gesagt, sie soll morgen gegen eins vorbeikommen.«
»Aber bitte nicht zu mir! Ich will keine ekligen Furunkel sehen.« Jetzt lacht auch Andreas Mutter. »Soll ich Ihnen einen Witz erzählen?« fragt der Arzt, bemerkt den mürrischen Jungen, der Joanne gegenübersitzt, und geht ein paar Schritte in seine Richtung, um ihn in die Gruppe der Auserwählten mit einzubeziehen. »Ein katholischer Priester, ein evangelischer Priester und ein Rabbi diskutieren darüber, wann das Leben beginne, und der katholische Priester sagt: ›Das Leben beginnt im Augenblick der Empfängnis.‹ Der evangelische Priester erwidert: ›Entschuldigen Sie, aber das Leben beginnt im Augenblick der Geburt‹, und der Rabbi meint: ›Entschuldigung, aber Sie haben beide unrecht. Das Leben beginnt, wenn die Kinder das Haus verlassen und der Hund stirbt.‹« Joanne lacht auf. »Das ist der andere Grund, weshalb ich sie angestellt habe«, bemerkt Ronald Gold schnell. »Wer ist der nächste?«
»Susan Dotson.«
»Susan Dotson, meine Lieblingspatientin«, ruft der Doktor, als ein säuerlich dreinblickender, übergewichtiger Teenager augenrollend an ihm vorbeistolziert. »Sie ist ganz verrückt nach mir«, flüstert Ronald Gold und folgt dem Mädchen in eine der kleinen Untersuchungskabinen, während Andrea Armstrong und ihre Mutter die Praxis verlassen.
»Ist der immer so?« fragt Simon Loomis und wippt mit dem Stuhl, so daß seine Füße den Boden nicht mehr berühren.
»Ja, immer«, antwortet Joanne. Wieder klingelt das Telefon. »Praxis Dr. Gold. Hallo, Eve! Wie war die Untersuchung? … Mein Gott, das klingt ja schrecklich. Mußtest du dich übergeben? … Was hat der Arzt gesagt? … Wieder? Warum denn? Ich meine, wenn er schon beim erstenmal nichts festgestellt hat und dir ist schlecht geworden … Nein, ja, natürlich mußt du tun, was du für nötig hältst … Okay, bis später. Versuch dich ein bißchen auszuruhen. Ich rufe dich an, wenn ich zu Hause bin.« Sie legt den Hörer auf. Sie fühlt sich hilflos und ist deprimiert wie immer in letzter Zeit, wenn sie mit Eve gesprochen hat. Sie wirft einen Blick dorthin, wo Simon Loomis sitzt.
Sein Stuhl ist leer. Joanne sieht sich hastig im ganzen Wartezimmer um. Der Junge ist verschwunden. Vielleicht wollte er doch nicht warten, überlegt sie, froh, daß er weg ist. Es
Weitere Kostenlose Bücher