Ein Moment fürs Leben. Roman
zufällige Momente sprangen mich förmlich an und brachten Erinnerungen in Gang, die ich längst vergessen geglaubt hatte. Diese Kisten enthielten mein ganzes Leben – auf Papier –, meine Beziehungen zu allen Leuten, mit denen ich jemals etwas zu tun gehabt hatte. Mein Leben hatte über sie Buch geführt, hatte sie analysiert und studiert, um herauszufinden, ob das Mobbing auf dem Schulhof etwas mit der gescheiterten Beziehung zwanzig Jahre später zu tun hatte und ob es einen Zusammenhang gab zwischen einer unbezahlten Rechnung auf Korfu und dem Drink, der in einem Dubliner Club in meinem Gesicht gelandet war. Letzteres erwähne ich nur deshalb, weil die beiden Dinge wirklich hundertprozentig in Zusammenhang standen, wie sich später herausstellte. Auf einmal sah ich mein Leben als eine Art Wissenschaftler und sein Büro als sein Labor, in dem er seine Tage verbracht hatte, bevor wir uns kennengelernt hatten, und wo er auch den Rest seiner Tage damit verbringen würde, mich zu analysieren, mit Philosophien und Theorien zu experimentieren und zu erforschen, warum ich so geworden war, wie ich war, warum ich welche Fehler gemacht und gelegentlich auch gute Entscheidungen getroffen hatte, warum ich erfolgreich gewesen und wo ich ins Schleudern geraten war. Das Lebenswerk meines Lebens.
»MrsMorgan meint, ich soll das alles entsorgen und lieber auf diesen kleinen USB -Sticks speichern, aber ich weiß nicht, ich bin altmodisch. Ich mag meine geschriebenen Berichte lieber, die haben Charakter.«
»MrsMorgan?«, fragte ich etwas benommen.
»Du erinnerst dich doch bestimmt an die Amerikanerin, der du damals den Schokoriegel geschenkt hast? Sie hat angeboten, mir zu helfen, alles in den Computer einzugeben, aber die Agentur will dafür kein Geld lockermachen, also werde ich es wohl irgendwann selbst in Angriff nehmen. Ich hab ja sonst nichts zu tun.« Er lächelte. »Wie du sicher von unserem ersten Treffen noch weißt, habe ich schon eine Menge wichtiges Zeug im Computer. Oh, und du wirst dich bestimmt freuen zu hören, dass ich mir einen neuen zugelegt habe«, fügte er hinzu und klopfte auf den nagelneuen PC auf seinem Schreibtisch.
»Aber … aber … aber …«
»Guter Punkt, Lucy, den habe ich selbst schon unzählige Male vorgebracht.« Wieder lächelte er sanft. »Kommt dir das alles jetzt ein bisschen seltsam vor?«
»Ich glaube, ich fange gerade erst an zu begreifen, dass ich wirklich dein
Job
bin. Nur ich?«
»Du meinst, ob ich nebenbei noch schwarz am Leben anderer Leute arbeite?«, lachte er. »Nein, Lucy, ich bin dein Seelenpartner, deine andere Hälfte, wenn du so willst. Du kennst doch sicher die altmodische Theorie, dass es irgendwo von jedem Menschen noch einen anderen Teil gibt … ich bin deiner.« Er winkte mir unbeholfen zu. »Hi.«
Keine Ahnung, warum mir alles plötzlich so sonderbar erschien. Schließlich hatte ich doch das Interview mit der Frau gelesen, die ihr Leben getroffen hatte, und sie hatte nicht nur ihren neuen Ernährungs- und Fitnessplan vorgestellt – der Übersichtlichkeit halber in einem Extrakasten, mit Bildchen von Porridge, Blaubeeren, Lachs und Brokkoli als Beispiel für die Nahrungsmittelgruppen, falls jemand damit nicht vertraut war –, sondern auch noch bis in die kleinsten Einzelheiten erklärt, wie das ganze »Lebens«-System funktionierte. Also wusste ich Bescheid und hatte keinen Grund, überrascht zu sein. Aber als ich das Ganze in diesem Büro vor mir sah, schien es mir plötzlich so normal und alltäglich, dass die ganze Magie verschwunden war. Nicht etwa, dass ich an Magie glaubte – was ich zumindest teilweise meinem Onkel Harold zu verdanken habe, der stets mit solch übertriebenem Nachdruck behauptete, er hätte mir meine fünfjährige Nase gestohlen, obwohl doch zwischen seinen Fingern unverkennbar sein eigener fetter gelber Daumen steckte, der meiner Nase kein bisschen ähnelte, denn die hatte keinen schmutzigen Fingernagel und stank auch nicht nach Zigarettenrauch.
»Woher weißt du, dass ich die Richtige für dich bin?«, fragte ich. »Was, wenn in diesem Moment ein deprimierter Mann namens Bob auf einer Couch sitzt, Nutellasandwiches verdrückt und sich fragt, wo in aller Welt denn bloß sein Leben ist, und das bist du, aber stattdessen bist du hier, und es ist alles nur ein Riesenfehler und …?«
»Ich weiß es eben«, unterbrach er mich schlicht. »Hast du nicht das gleiche Gefühl?«
Ich sah ihn an, sah ihm direkt in die Augen und war
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