Ein Moment fürs Leben. Roman
den zehnten Stock und gehen Sie erst rechts, dann links, und dann sehen Sie ihn schon.«
Ich wandte mich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne. »Wie ist er denn so?«
»Ach, keine Sorge – Sie haben doch nicht etwa Angst?«
»Nein«, winkte ich ab. »Warum sollte ich?« Wieder stieß ich das Lachen aus, damit bestimmt jeder im Umkreis von fünf Meilen hören konnte, dass ich Angst hatte, und ging zum Aufzug.
Zehn Stockwerke blieben mir noch, um meinen großen Auftritt vorzubereiten. Ich zupfte meine Haare zurecht und nahm Haltung an – gespitzte Lippen, sexy, aber so, als hätte ich davon keine Ahnung, perfekte Pose mit ein paar Fingern in der Hosentasche. Genau der Eindruck, den ich machen wollte. Aber dann öffneten sich die Aufzugtüren, und ich stand vor einem ramponierten Ledersessel, auf dem eine zerfledderte Frauenzeitschrift ohne Cover lag, und einer Holztür in einer Glaswand mit windschiefen Jalousien. Als ich durch die Tür ging, kam ich in einen Raum so groß wie ein Fußballfeld, ausgefüllt mit einem Labyrinth zahlloser, mit grauen Stellwänden voneinander getrennter Kabinen. Winzige Schreibtische, alte Computer, ramponierte Stühle, über den Schreibtischen an die Wand gepinnte Kinder-, Hunde- und Katzenfotos, personalisierte Mousepads, Stifte mit rosa Flauschpuscheln, Urlaubsbilder als Bildschirmschoner, Geburtstagskarten, ein paar Kuscheltiere und bunte Becher, auf denen Sprüche standen, die nicht witzig waren. Lauter Dinge, mit denen Leute sich ihre armseligen paar Quadratmeter gemütlich zu machen versuchen. Es sah genauso aus wie bei mir im Büro, und ich hatte sofort den Impuls, so zu tun, als hätte ich etwas zu fotokopieren, um ein bisschen Zeit totzuschlagen.
Ich schlängelte mich durch das Schreibtischlabyrinth, schaute mich nach links und rechts um und fragte mich, was ich wohl hier vorfinden würde, bemühte mich aber, meinen entspannten, freundlichen Gesichtsausdruck beizubehalten, obwohl ich innerlich frustriert war, dass mein großes Treffen mit dem Leben in diesem Loch stattfinden sollte. Und dann war er plötzlich da. Mein Leben. Hinter einem schäbigen Schreibtisch saß er, mit gesenktem Kopf, und kritzelte mit einem Stift, der – nach dem Ergebnis des Gekritzels zu urteilen – nicht funktionierte, auf einem ollen Notizblock herum. Er trug einen zerknitterten grauen Anzug, ein graues Hemd und eine graue Krawatte mit der Dreifachspirale darauf. Seine Haare waren zerzaust, schwarz mit ein paar grauen Strähnen, sein Kinn stopplig mit einem Dreitagebart. Als er aufblickte und mich sah, legte er den Stift weg, stand auf und wischte die Hände an seinem Anzug ab, wobei er feuchte Knitterspuren hinterließ. Er hatte rotgeränderte Augen mit dunklen Ringen, schniefte und sah aus, als hätte er seit Jahren nicht mehr ordentlich geschlafen.
»Sind Sie …?« Ich versuchte, spielerisch zu lächeln.
»Ja«, antwortete er ausdruckslos. »Sie sind also Lucy.« Er streckte mir die Hand entgegen. »Hi.«
Mit großen Schritten stürmte ich auf ihn zu, als wäre ich ach-so-aufgeregt und begeistert über unser Treffen, schüttelte seine Hand und setzte das strahlendste Lächeln auf, das ich zustande brachte. Ich wollte ihm unbedingt gefallen, wollte ihm beweisen, dass es mir gutging, dass alles absolut in Ordnung war. Sein Händedruck war lasch. Seine Haut kühl und feucht. Seine Hand entglitt mir wie eine Schlange.
»So«, rief ich überenthusiastisch und nahm Platz. »Endlich sehen wir uns mal«, fügte ich geheimnisvoll hinzu und versuchte, seinen Blick zu erhaschen. »Wie geht es Ihnen denn?« Selbst in meinen eigenen Ohren hörte ich mich total überspannt an. Der Raum war viel zu groß, zu leer, zu nichtssagend, zu deprimierend für meinen exaltierten Ton, aber ich schaffte es einfach nicht, einen Gang zurückzuschalten.
Er schaute mich an. »Wie soll es mir wohl gehen?«
Er sagte das ziemlich unhöflich. Sehr unhöflich sogar. Ich war so überrascht, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. So redete man doch nicht miteinander! Normalerweise tat man doch wenigstens so, als fände man den anderen sympathisch, oder nicht? Man heuchelte ein bisschen Freude, dass man sich endlich kennenlernte oder endlich wiedersah – oder nicht? Besorgt schaute ich mich um. Hoffentlich belauschte uns keiner.
»Hier ist niemand«, erklärte er sofort. »Am Sonntag arbeitet keiner. Die haben alle ein Leben.«
Ich verkniff mir eine bissige Erwiderung. »Aber arbeiten in dem Gebäude
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