Ein Moment fürs Leben. Roman
nicht auch die Leben von anderen Leuten?«
»Nein.« Er sah mich an, als wäre ich beschränkt. »Ich habe den Büroplatz nur gemietet. Was die hier sonst machen, weiß ich nicht«, meinte er mit einem Blick über die leeren Schreibtische.
Wieder war ich einen Moment sprachlos. So hatte ich mir das überhaupt nicht vorgestellt.
Er rieb sich müde das Gesicht. »Ich wollte nicht unhöflich wirken.«
»Tja, das haben Sie aber.«
»Tut mir leid«, sagte er ohne eine Spur von Ehrlichkeit.
»Stimmt doch gar nicht.«
Schweigen.
»Hören Sie«, begann er und beugte sich über den Tisch. Sein Mundgeruch schlug mir so heftig entgegen, dass ich unwillkürlich zurückwich – was mir im nächsten Moment peinlich war. Er seufzte und fuhr fort: »Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine gute Freundin, die immer für Sie da ist, und Sie umgekehrt auch, aber dann kümmert sie sich auf einmal nicht mehr so viel um Sie, was Sie zum Teil verstehen können, weil sie viel zu tun hat, aber die Freundin lässt sich immer weniger blicken, obwohl Sie alles Mögliche versuchen, um den Kontakt wiederzubeleben. Und eines Tages ist sie plötzlich ganz verschwunden, unerreichbar, einfach so. Sie schreiben ihr – keine Reaktion. Sie schreiben ihr noch einmal, werden wieder ignoriert, schreiben ein drittes Mal, aber Ihre Freundin will sich nicht mal mehr mit Ihnen verabreden, weil sie so beschäftigt ist mit ihrem Job und ihren Freunden und ihrem Auto. Wie würden Sie sich da fühlen?«
»Vermutlich spielen Sie in Ihrer kleinen Geschichte auf mich an, aber das ist absolut lächerlich.« Ich lachte demonstrativ. »Das ist doch etwas ganz anderes. So würde ich eine Freundin niemals behandeln.«
Er lächelte sarkastisch. »Aber Ihr Leben schon.«
Ich machte den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus.
»Dann fangen wir doch mal an«, sagte er und drückte auf den
On
-Knopf an seinem Computer.
Nichts passierte. Unbehaglich und angespannt beobachtete ich, wie er immer frustrierter auf den Knopf drückte, schließlich aufsprang, die Steckdose überprüfte, den Stecker herauszog und wieder einsteckte. Alles ohne Erfolg.
»Kontrollieren Sie doch mal …«
»Auf Ihre Hilfe kann ich verzichten, danke. Bitte nehmen Sie die Hand von …«
»Ich will doch nur …«
»Nehmen Sie die Hand da weg.«
»… nach dem Kontakt hier schauen.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie einfach …«
»Na bitte.«
Ich lehnte mich zurück. Der Computer brummte fröhlich.
Er holte tief Luft. »Danke.«
Natürlich meinte er es nicht ehrlich.
»Wann haben Sie denn diesen Computer gekauft? 1980?«
»Ja, ungefähr zur gleichen Zeit wie Sie Ihr Jackett«, erwiderte er, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen.
»Das ist doch kindisch.« Ich zog besagtes Jackett enger um mich, verschränkte die Arme, schlug die Beine übereinander, sah in die andere Richtung. Dieses Treffen war ein Albtraum, noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Mein Leben war ein Mistkerl, der sich ständig angegriffen fühlte.
»Wie haben Sie es sich denn vorgestellt?«, fragte er in die Stille hinein.
»Keine Ahnung«, antwortete ich, immer noch verärgert.
»Aber Sie müssen sich doch irgendwas gedacht haben.«
Ich zuckte die Achseln. Dann fiel mir eins der Bilder ein, das ich von mir und meinem Leben zusammenphantasiert hatte, in einem Boot, an irgendeinem malerischen Ort, er ruderte, ich las Gedichte, hatte einen hübschen Sonnenhut auf dem Kopf und ein Kleid von Cavalli an, das ich in einer Zeitschrift gesehen hatte, mir aber nicht leisten konnte – weder die Zeitschrift noch das Kleid. Mir fiel wieder ein, dass ich mir vorgestellt hatte, wie ich mit frisch gestylten Haaren mein Interview über mein Leben gab, gut geschminkt, mit Kontaktlinsen, einem gerafften asymmetrischen Kleid, perfekt ausgeleuchtet. Vielleicht eine Schale mit Zitronen und Limetten neben mir. Ich seufzte und schaute ihn schließlich doch wieder an. »Ich dachte, es wäre wie in einer Therapiesitzung. Sie würden mich nach meinem Job und nach meiner Familie fragen, ob ich glücklich bin und solche Sachen.«
»Haben Sie schon mal eine Therapie gemacht?«
»Nein.«
Er musterte mich eindringlich.
»Doch. Einmal«, räumte ich seufzend ein. »Als ich meinen Job gekündigt habe. Um die gleiche Zeit, als ich meinen Freund verlassen und eine neue Wohnung gekauft habe.«
Er verzog keine Miene. »Sie sind gefeuert worden. Ihr Freund hat Sie verlassen, und Sie haben ein winziges Einzimmerapartment
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